„Es gelingt nicht, den Krieg zu beenden“

Herr Münkler, warum soll uns 1914 noch interessieren?
Herfried Münkler: Dieser Krieg beeinflusst unser 21. Jahrhundert in Europa sehr viel mehr als etwa der zweite Weltkrieg. Zugespitzt kann man sagen: Die unmittelbaren politischen Ergebnisse des zweiten Weltkrieges sind mit dem Mauerfall, der Veränderungen in Mitteleuropa, dem Zusammenbruch der Sowjetunion eigentlich verschwunden. Aber die Ergebnisse des ersten Weltkrieges bleiben, einmal abgesehen von dem beendeten Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich um die Hegemonie in Europa. Es bleiben die Ergebnisse des Zerfalls der multinationalen und multireligiösen Imperien des Ostens, der Donaumonarchie, des Zarenreichs, des Osmanischen Reichs. Donaumonarchie heißt: Balkanproblem. Zarenreich heißt: Kaukasus, inzwischen auch Ukraine. Osmanisches Reich heißt: Naher Osten, mittlerer Osten. Überall in diesen postimperialen Räumen ist so etwas entstanden wie ein Territorialstaat, der teilweise von sich behauptet, ein Nationalstaat zu sein, was nicht wirklich stimmt. Und der Zerfall des Iraks, Syriens, des Libanon lässt erwarten, dass demnächst auch weitere Staaten von einem Zerfall ergriffen sein werden, Jordanien etwa.

Gäbe es denn all diese Problemfelder ohne den ersten Weltkrieg nicht?
Das ist schwer zu sagen. Ein Krieg ist ja eine kataklysmische Beschleunigung von Vorgängen. Sturzbachartig fließen hier die Dinge zusammen. Die Politik hat keine Zeit mehr dafür, etwas zu bearbeiten. Alles zieht mit ungeheurer Geschwindigkeit an den Menschen vorbei, bricht über sie herein. Von daher kann man sagen: Hätten sich das Zarenreich, die Donaumonarchie, auch das Osmanische Reich in politischen Prozessen transformiert und reformiert, in denen man sehr viel mehr Zeit gehabt hätte, dann ist es wahrscheinlich, dass viel stabilere und belastbarere Lösungen gefunden wären als das, was zustande gekommen ist.

War die politische Führung 1914 gar nicht mehr handlungsfähig?
Das ist einer der spannenden Punkte des späten Juli, frühen August 1914. Die Politik agiert unter den Bedingungen von Massenheeren: Es führen nicht mehr ein paar zigtausend Mann einen Feldzug durch, es werden Millionen in Bewegung gesetzt. Das ist ein ungeheurer Organisationsaufwand. Die Politik steht eigentlich dabei und staunt nur noch wie – im deutschen Fall – die Aufmarschabteilung des Generalstabs im Prinzip alles übernimmt und bestimmt. Insofern hat die Politik abgedankt und hat auch erstmal, als das Kämpfen begonnen hat, keine Chance mehr.

Konnte die Politik tatsächlich nichts tun?
Rationalerweise hätte die Politik im Spätherbst 1914 die Chance zu handeln ergreifen müssen – als klar war, dass bei allen Kontinentalmächten die Kriegspläne gescheitert waren. Aber das hat die Politik nicht geschafft. Sie schafft es auch weitere vier Jahre nicht, sondern hechelt immer hinter den Entscheidungen der Militärs und deren Verweis auf die Organisationszwänge, die Notwendigkeit und die Chance, doch noch einen Sieg zu erringen, hinterher.

Gab es denn Bemühungen, den Krieg zu beenden?

Ja, die gab es relativ früh von Papst Benedikt XV. Es gab auch Bemühungen aus dem deutschen Reichstag heraus mit der Wende der Zentrumspartei und deren Annäherung an die Sozialdemokratie. Und es gab Bemühungen von Kaiser Karl, dem Nachfolger Franz Josephs. Auch die sozialistische Internationale wollte sich von der katholischen Internationalen nicht auf Dauer ins Hintertreffen bringen lassen und machte entsprechende Versuche. Und das Deutsche Reich hatte schließlich die Vorstellung, man könnte die Russen 1915 zu einem Separatfrieden zwingen. Fast könnte man sagen: Rollte dieser Kriegswagen einmal, gab es keine Hände, die stark genug waren, um in die Speichen zu greifen und ihn zum Stehen zu bringen.

Das klingt fatalistisch.
Eigentlich war es schon vor 1914 klar, dass ein großer Krieg, in dem alle europäischen Großmächte beteiligt sind, eine Katastrophe ist. Während des gesamten 19. Jahrhunderts hat man es geschafft, Kriege zu lokalisieren und zeitlich zu limitieren. Das gelingt 1914 nicht. Und es gelingt im Herbst 1914 nicht, den Krieg zu beenden. Man hätte ja im November sagen können: Okay, alle Pläne sind gescheitert, wir kehren zurück zum Status quo ante. Wir haben zwar furchtbare Wunden zu lecken, aber wir haben eingesehen, dass dies nicht zu einer vertretbaren Lösung in Europa führt.

Sie haben in Ihrem Buch die langen und kurzen Wege in den Krieg skizziert. Gibt es aber ein Jahr, ein Datum, an dem Sie ansetzen würden als Ausgangspunkt für die „Urkatastrophe“?
Ja, 1911. Das ist ein ganz eigentümliches Jahr. Auf der einen Seite wird 1911 klar, dass der Dreibund, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, so nicht funktionieren wird, weil sich Italien zunehmend entfernt. Das hat mit dem Libyen-Krieg zu tun, Italien strebt zur Kolonialmacht auf, wird dadurch verwundbar. Die Deutschen können den Italienern im Mittelmeer nicht helfen. Und die Italiener orientieren sich zunehmend hin zu Briten und Franzosen. Das hat zur Folge, dass das Deutsche Reich nur noch einen Verbündeten hat, dem es unter allen Umständen den Rücken stärken muss, nämlich Österreich-Ungarn. Der sozusagen Zwang zum Blankoscheck beginnt 1911. Und zweitens ist klar, dass die zwölf italienischen Divisionen, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, die Elsass-Front zu übernehmen und zu decken, nun nicht mehr zur Verfügung stehen. So muss die siebte Armee nach Süden gerückt werden. Und der Zeitdruck, den die deutsche militärische Führung empfindet, wächst. Das ist aber nicht alles.

Nämlich?
In diesem Jahr 1911 beginnt Reichskanzler Bethmann eine Art Entspannungspolitik gegenüber den Briten, das ist die eine Sache. Die andere: Es beginnt gleichzeitig ein Rüstungswettlauf, denn die Deutschen müssen ja irgendwie die zwölf fehlenden Divisionen kompensieren. Also setzt man auf eine Heeresvergrößerung. Die Franzosen machen ähnliches. Sie verlängern die Dienstzeit von zwei auf drei Jahre. Die Russen wiederum stellen ganz neue Armeen auf. 1911 ist ein Jahr, in dem die Weichen gestellt, umgestellt werden, man weiß aber nicht genau, ob der Zug auf Frieden zuläuft – Reichskanzler Bethmann Hollweg, Überwindung der Bündniskonstellation – oder aber auf Krieg, also Moltke, der Chef des Generalstabs, der sagt: Besser früher als später, wenn wir einen Krieg führen, dann müssen wir ihn jetzt führen.

Es bleibt aber lange unklar, welche Seite sich durchsetzt.
Es bleibt eigentlich bis zum späten Juli unklar, denn in Berlin geht man ja doch davon aus, dass die Österreicher eine schnelle Operation gegen Belgrad führen. Die Serben kriegen also eine Strafe dafür, dass sie mit ihrem Geheimdienst die Attentäter von Sarajewo unterstützt haben – und dann ist das auch wieder zu Ende. Kaiser Wilhelm geht davon aus, dass die Russen Königsmörder nicht decken werden. Eine schnelle Operation bekommen die Österreicher nicht hin, aus Gründen, die man eigentlich in Berlin hätte wissen können: Das Gros der österreichischen Armee ist im Sommer auf Ernteurlaub und nicht einsetzbar. Und deswegen vergeht Zeit. Als dann Ende Juli, einen Monat nach dem Attentat, die Österreicher anfangen, sich militärisch zu bewegen, besteht eine ganz andere Situation, bestehen andere Konstellationen als Anfang Juli.

Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte in einer Depesche an den deutschen Botschafter in Wien Ende Juli 1914, man könne sich von Wien nicht leichtfertig in einen Weltbrand hineinziehen lassen.
Ja, er sagt, die Österreicher sollen doch mit den Russen verhandeln. Aber nun sind bereits die Weichen gestellt durch die Abfolge der Mobilmachung, und die Politik bekommt die Geister, die sie gerufen hat, nicht mehr in die Flasche hinein.

Was war das überhaupt für eine Idee unter anderem von Generalstabschef Moltke, einen „Präventivkrieg“ durchzuführen – gibt es so etwas heute noch?
Die leitenden Ideen einer Präventivkriegführung ist verschwunden. Vielleicht sehen das noch die USA als Möglichkeit, würden dann aber auch eher von Präemtiv- als von Präventivkrieg sprechen. Es ist interessant, Bethmann Hollweg sagt über den deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien am 4. August 1914, selbstverständlich sei das etwas, was gegen Völkerrecht verstoße, man werde die dabei entstandenen Schäden wieder gut machen – wobei er davon ausgeht, dass Belgien keinen Widerstand leistet. Ernst Jünger hat später gesagt, dies sei eine der verheerendsten Reden eines deutschen Politikers gewesen, selbstverständlich hätte Bethman Hollweg sagen müssen, man marschiere in Belgien ein um die notorisch von den Wallonen unterdrückten Flamen zu befreien. Hätte Bethman das gesagt, dann wären wir sehr viel mehr an heutigen Ereignissen, etwa was die Krim und was die Ost-Ukraine anbetrifft, dran, und auch sonst an Rechtfertigungen militärischen Agierens. Bethman aber denkt noch ganz wie ein alteuropäischer Politiker: Krieg ist ein zulässiges Mittel bei der Verfolgung von Interessen.

Hat sich die aufstrebende Wirtschaftsmacht Deutschland tatsächlich eingeengt gefühlt – und wer war in diesem Fall Deutschland? Weiß man aus den Quellen, ob ein solches Gefühl auch in der Bevölkerung steckte?
Niedergangsängste und Einkreisungsängste sind beides Dispositionen, die man im Nachhinein kaum objektiv beurteilen kann. Das ist keine deutsche Spezialität, die Russen haben sich 1904 auch eingekreist gefühlt durch Deutschland hier und Japan dort. Die Italiener haben sich eingekreist gefühlt von Frankreich in Savoyen und von Tunesien. Die Österreicher fühlten sich eingekreist von den Russen auf der einen Seite und von den Italienern, mit denen sie offiziell verbündet waren, auf der anderen Seite. Und die Vorstellung, dass Deutschland durch Frankreich und Russland eingekreist ist, die ist nicht nur im Generalstab vorhanden, sondern ist auch in der Politik. Da ist man auch überrascht, dass Frankreich als Republik in revolutionärer Tradition mit der reaktionärsten Macht in Europa, nämlich mit dem russischen Zaren, ein Bündnis eingegangen ist. Aus dieser Disposition heraus agieren die Politiker. Heute, wo wir wissen, wie die Dinge ausgegangen sind und wir auch eine Vorstellung davon haben, dass man Einkreisungen auch anders beenden kann als durch eine Hochrisikostrategie, möchte man ihnen nachträglich in den Arm fallen und sie stoppen. Aber das ist natürlich nie die Perspektive der Akteure in der Situation, die sich in einem Feld der Ungewissheiten bewegen.

Die Wirtschaften, auch der zwei konkurrierenden Staaten Großbritannien und Deutsches Reich, waren eng verknüpft. Sie schreiben, die Voraussetzungen für eine dauerhafte Kooperation zwischen Großbritannien und Deutschland waren gut. Hat ein Spion alles zunichte gemacht?
Ja, das ist eine ganz dumme Sache. Der Spion der Deutschen in der russischen Botschaft in London informiert sie über Marinegespräche. Deren Inhalt ist nicht besonders aufregend. Aber Bethmann Hollweg lässt in London sagen, dass man dringend darum ersuche, solche Gespräche nicht zu führen, weil sie die vitalen Interessen des deutschen Reiches betreffen würden. Der britische Außenminister Edward Grey aber antwortet Bethmann, es gebe diese Gespräche nicht. Jetzt ist Bethman in einer vertrackten Situation, denn er weiß, diese Gespräche werden geführt, er kennt sogar ihren Inhalt. Für seine Entspannungspolitik braucht er aber auf der britischen Seite einen Partner, dem er vertraut, damit er dem Moltke sagen kann: Sie sind verrückt, wir werden keinen Krieg führen. Und jetzt zweifelt Bethmann und der Fatalismus, der sich zunehmend breit macht, hat sicher etwas damit zu tun. Ein Unglücksfall. Also, wir könnten uns vorstellen: Dieser Spion wäre nicht da gewesen, dann wäre womöglich der gesamte Verlauf der Julikrise anders gewesen. Die Deutschen hätten den Briten mehr vertraut, die Briten hätten das gemerkt und entsprechend kooperiert – und der Krieg wäre nicht ausgebrochen.

Im Sommer 1914 sind alle kriegsbegeistert, diesen Eindruck kann man bekommen, wenn man an altes Bildmaterial denkt oder an Künstler wie Franz Marc, die von „Reinigung“ sprechen und sich freiwillig zum Kriegsdienst melden. Wie stark war die Kriegsbegeisterung tatsächlich?
Das Augusterlebnis, die Kriegsbegeisterung ist ein ambivalenter Vorgang. Lange Zeit hieß es: Alle waren begeistert. Dann haben die Historiker angefangen zu gucken: Wie sieht das denn in den Mittelstädten, Kleinstädten, Dörfern aus und stellten fest, dass die Menschen gar nicht begeistert sind. Anfang August finden keine Umzüge statt, ja, die Menschen befinden sich eher in einer Art Schockstarre. In Tagebüchern aber liest man von einer Augustbegeisterung, die die Menschen gar nicht in der Situation erfahren haben. Man adoptierte sie also gleichsam.
Wie erklären Sie sich das?
Der deutsche Opferbegriff enthält beides, das Sakrifizielle und das Victime, also die heroische Bereitschaft, sich zu opfern, die rettende Tat. Sakrifizium auf der einen Seite und Victima, das Ausgeliefertsein an ein unbeherrschbares Geschehen, auf der anderen Seite. In den mittleren Städten bis hin zu den Dörfern fühlt man sich Anfang August viktim: Da ist fern in der Hauptstadt etwas passiert und jetzt muss man die Pferde und Knechte abgeben, die Söhne gehen an die Front – und wie soll das hier alles überhaupt funktionieren. Aber in so einer viktimen Grundstimmung hält man es ja nicht lange aus, das ist ja tendenziell unerträglich. Und da gibt es sozusagen das Angebot des Sakrifiziellen, nämlich: Es wird uns einiges kosten, wir werden Opfer bringen, aber wir werden daraus zum Gestalter unserer Geschichte werden. Insofern ist es dann naheliegend, dass nach einiger Zeit gleichsam aus dieser Schockstarre erwachend man umstellt auf die Vorstellung: Wir werden für das Vaterland einstehen und wir werden diesen Krieg gewinnen.

Eine These lautet: Es war der Militarismus der Deutschen, der in den Krieg führte. Sie dagegen sagen, von dem Militarismus kann keine Rede sein. Warum?
Die Franzosen und die Briten geben pro Kopf mehr fürs Militär aus als die Deutschen. Die Franzosen haben ungefähr 80 Prozent der Wehrpflichtigen an der Waffe ausgebildet, die Deutschen knapp über 50 Prozent. Der deutsche Militarismus ist in sich widersprüchlich. Man bildet nicht mehr Männer aus, weil klar ist, dass dann Bürgerliche in hohem Maße Offiziere werden und Sozialdemokraten Unteroffiziere. Das wäre ein anderes Heer. Der Militarismus in Deutschland ist ein bestimmter Habitus auch von im Abstieg befindlicher sozialer Schichten – dieser alten Adeligen mit im wesentlichen agrarischen Wurzeln, die ihre Bauerngüter finanzieren können, indem sie ihre Buben anhalten eine reiche bürgerliche Frau zu finden. Aber im Militär – da sind sie nach wie vor etwas. Also den Einfluss, den sie wirtschaftlich verloren haben, versuchen sie im militärischen Gestus wieder hereinzuholen. Insofern ist der Militarismus in Deutschland in vielerlei Hinsicht ein inszenatorisches, habituelles oder auch ästhetisches Ereignis, bringt sich zum Ausdruck in einer bestimmten Sprechweise, in einer Haltung, in den eckigen Bewegungen und in der Pickelhaube. Aber sicherlich nicht in militaristischen Kapazitäten.

Aber die gibt es doch auch.
Ja, die gibt es auch, allen voran mit der Kruppschen „Wunderwaffe“ mit dem charmanten Namen Dicke Berta. Aber das ist etwas völlig anderes, das ist grade nicht dieser aristokratische Habitus der abgehackten Sätze, sondern das ist Industrie. Die deutsche elektrotechnische und chemische Industrie ist weltweit führend. Das deutsche Unglück ist die Verbindung zwischen diesen Modernisierungspotenzialen auf der einen Seite – Krupp, AEG, Fritz Haber, Bosch – und auf der anderen Seite diesem Rittmeistergestus des steifen Adeligen, der im Prinzip nicht besonders klug und politisch unerfahren ist, der aber eine Vorstellung von männlichem Gestus hineinbringt. Und diese Widersprüchlichkeit ist viel folgenreicher für den Verlauf der deutschen Geschichte im frühen 20. Jahrhundert als der Begriff „Militarismus“ das zum Ausdruck bringen könnte.

Kommen wir zum Thema „Schuld“. Heute herrscht Konsens darüber, von verschieden starker „Verantwortung“ zu sprechen anstelle von „Schuld“, wie sie im Versailler Vertrag festgeschrieben ist. Was machte die Betonung von „Schuld“ mit Deutschland?
Schuld ist ein moralischer Begriff, ein juristischer, wenn Sie so wollen auch ein theologischer Begriff. Wenn wir die Sache politisch betrachten, ist es sinnvoll, von „Verantwortung“ zu sprechen, von Fehlentscheidungen, von Fehleinschätzungen, von Illusionen, Irrtümern. Schuld ist eine Begrifflichkeit, die über den Artikel 231 des Versailler Vertrages reingekommen ist, in dem die Alleinschuld der Deutschen festgestellt worden ist. An diesem Problem haben sich die Deutschen nun einmal abgearbeitet, weil sie das Gefühl hatten, sie seien ungerecht behandelt worden. Darüber haben sie Ressentiments ausgebildet. Das spielt in der frühen Bundesrepublik eine Rolle: Okay, wenn wir am ersten Weltkrieg nicht Schuld waren, waren wir auch nicht an Versailles schuld, dann waren wir auch nicht an dem Zusammenbruch der Weimarer Republik Schuld, auch nicht am Aufstieg Hitlers, auch nicht am Ausbruch des zweiten Weltkrieges, also wollen wir die deutschen Ostgebiete wieder haben. Und dagegen argumentiert dann der Historiker Fritz Fischer in den frühen 1960er Jahren bis hin zu dem Punkt, wo er sagt: Die Deutschen trügen doch eine wesentliche Schuld am Verlaufe dieses Krieges. Insofern sind diese Auseinandersetzungen auch immer Auseinandersetzungen nicht nur um historische Wahrheit, sondern über politische Handlungsspielräume und politische Orientierungen.

Der Schuldige hatte zu zahlen, das ist nun vorbei.
Ja, wenn wir Schuld in den Plural setzen – Schulden – haben wir einen ökonomischen Begriff. Und hier kann man sagen: Die Bundesrepublik hat im Jahr 2010 die letzte Rate aus den Versailler Reparationserfordernissen an Frankreich überwiesen. Insofern sind die Schulden weg, also müssen wir jetzt auch nicht mehr über Schuld reden als eine Form der Lernblockade, sondern können über das sprechen, was wirklich wichtig ist, nämlich Verantwortung und wer verantwortet was. Damit will ich die Deutschen überhaupt nicht frei sprechen. Aber ich will weg von dieser unglückseligen moralischen Diskussion und auch in den Blick fassen, dass auch andere Länder einen ordentlichen Teil Verantwortung tragen – die Franzosen mit Poincaré (Anm.: Frankreichs Staatspräsident Raymond Poincaré), die Russen mit ihrer Expansionspolitik in den Balkan und in den Raum des osmanischen Reiches. Und sicherlich auch die Österreicher, die auf der einen Seite ängstlich waren und auf der anderen Seite forsch mit dem Feuer gespielt haben.

Warum hält sich eine solche Vereinfachung eigentlich so lange?
In Deutschland hat sich in den letzten vierzig Jahren kaum jemand für den ersten Weltkrieg interessiert. So sind gewisser Maßen Positionen festgeschrieben worden, die von Historikern mit der Methodologie von vor vierzig Jahren erarbeitet wurden. In den letzten Jahrzehnten hat man auf den zweiten Weltkrieg geschaut, der ein völlig anderer Krieg war. Und jetzt haben wir den Jahrestag. Aber auch die Probleme, die in Europa in der Peripherie eine Rolle spielen, haben sehr viel mehr mit dem ersten Weltkrieg zu tun als mit dem zweiten. Das lenkt den Blick zurück und es fällt uns manches dabei auf.

Der Blick auf das Thema Schuld kam erst jetzt wieder?


Ja, angestoßen durch den Historiker Christopher Clark (Anm.: Autor des 2013 erschienen Buchs „Die Schlafwandler“) kann man sagen, dass die spezifische deutsche Obsession der Hauptschuld oder der Alleinschuld weg gearbeitet worden ist. Wenn man ironisch ist, könnte man sagen: Nachdem die Deutschen irgendwann akzeptiert haben, dass an ihrem Wesen nicht die Welt genesen werde, haben sie das genaue Gegenteil propagiert, haben sich sozusagen eine Alleinschuld attestiert, damit sie wenigstens in einer Hinsicht die alleinigen seien. Das passt aber jetzt gar nicht mehr zu dem heutigen Europa und insofern ist es angemessen, uns auch in dieser Frage zu normalisieren.

Herfried Münkler ist Politiktheoretiker an der Humboldt Universität Berlin.
Autor von „Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918“. Rowohlt, 2013.

04/2014

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