Die Sonne geht auf, im Gängeviertel wummern an diesem Freitagmorgen die Bässe. Wie die ganze Nacht hindurch hört man auch jetzt die Sirenen der Polizei in Hamburg.
Das Gängeviertel ist ein ehemaliges Arbeiterviertel mit alten Fachwerkhäusern im Zentrum der Stadt, das 2009 besetzt wurde. Der Abriss der teils verfallenen Gebäude wurde verhindert, die Besetzer richtete Ateliers und ein Café ein, Wohnungen und Veranstaltungsräume. Das Viertel liegt in der Demonstrationsverbotszone: Seit sechs Uhr ist die „Allgemeinverfügung“ in Kraft, mit der das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in zwei Hamburger Innenstadtbereichen eingeschränkt wird. Im Gängeviertel feiert man nun „die letzte Stunde der Demokratie“.
An der Kreuzung vor dem Viertel wird ein schwarzer Block aufgeblasen – dieser schwarze Block versperrt bereits die Straßen. Das war der Plan des Aktionsbündnisses „Block G20“ für den gesamten Freitag: Den Ablauf des Gipfels „spürbar zu stören und die Inszenierung der Macht, die der Gipfel darstellt, zu brechen.“ Dazu werde man einen „massenhaften, öffentlich angekündigten Regelübertritt begehen“.
Hubschrauber kreisen. In der Stadt ist keine Ruhe. In der Nacht ist die G-20-Welcome-to-hell-Demonstration eskaliert, die um neunzehn Uhr am Fischmarkt an der Norderelbe losgegangen ist.
Weit kam sie nicht: Kurz vor der Hafenstraße steht ein großer Block komplett schwarz gekleideter Demonstranten einem Block Polizisten gegenüber. Erst, wenn sie die Vermummung sein ließen, dürften sie weiterziehen, werden die Frauen und Männer informiert.
Ein Stückchen weiter oben kann man alles gut sehen. Noch seelenruhig serviert die Kellnerin im Gastgarten des Restaurants „Gil“ Bier, Alsterwasser und Cola. Vom Hamburger Fischmarkt herauf strömen immer mehr Menschen, viele mit schwarzen Regenjacken, Kapuzen, Sonnenbrillen. Dazwischen Demonstranten gekleidet in unterschiedlichen Farben und – immer in Gruppen – Polizisten in Schutzuniform, mit Helmen und Schlagstöcken. „Haut ab, haut ab“, brüllen Frauen und Männer den Polizisten im Chor zu. Irgendwo zerbricht eine Glasscheibe. Der Zug kommt zum Stillstand, die Atmosphäre wirkt bedrohlich.
Ob sie keine Angst hätten? „Nein“, sagt herzlich lachend einer der Gäste des Restaurants, ein Mann Mitte 60, der mit seiner Frau hier sitzt. Sie würden doch gerade von „da“ kommen. „Da“ ist der Fischmarkt.
Unmittelbar daneben, auf der breiten „Treppe neben dem Fischerhaus“, die zum Fischmarkt, zur Hafenstraße und zur Elbe hinunterführt, sitzen etliche Frauen und Männer und beobachten die Entwicklung. „Ihr müsst die Treppe frei machen. Wenn das gleich losgeht hier, wo sollen die denn hin?!“, schimpft ein Mann mit den Leuten. „Scheiß Schaulustige“, sagt er noch. „Scheiß Polizei“, korrigiert ihn sein Begleiter. Ein anderer sagt, er sei hier, weil so viel falsch laufe auf der Welt, so viele die hungern, so viele, deren Lebensgrundlage durch billige Importwaren aus der EU zerstört würde.
Es ist kurz vor zwanzig Uhr. In der Nähe der Treppe zieht sich eine Gruppe junger Frauen gerade schwarze Jacken an und setzt sich Sonnenbrillen auf. Auf die Frage, warum sie hier seien, gibt es keine Antwort, sondern nur einen bösen Blick. Dann hört man einen Knall. Es riecht nach Schwefel.
Ein paar Meter weiter – auch hier überall Polizei – spielen junge Männer auf einem Basketballplatz, dahinter hat man einen guten Ausblick auf das, was sich an der Elbe gerade abspielt. Dutzende Menschen schauen hinunter. Immer wieder rufen einige „Haut ab, haut ab!“ zu den Polizisten unter oder hinter ihnen. Mit einem Mal kann ich nicht mehr aufhören zu husten. Und es geht hier allen so. Die Menschen schreien „Aufhören!“ Die Polizei setzt unten Reizgas oder Pfefferspray ein und Wasserwerfer.
Immer mehr Demonstranten kommen nun die Treppe herauf, ziehen am Basketballplatz vorbei, in die Straße Silbersacktwiete hinein zur Reeperbahn.
Er war selbst mal Polizist, kommentiert ein Mitte 60-Jähriger das Geschehen. Auch er habe als Bürger das Recht, gegen etwas zu protestieren, in Anspruch genommen und tue das nun auch gegen den G-20-Gipfel. „Es geht ja um unseren Planeten“, sagt seine Frau, die ebenfalls bei der Polizei gearbeitet hat.
Währenddessen lösen ein paar Meter entfernt drei schwarz gekleidete Männer flink aus dem Boden kleine Pflastersteine und packen sie ein. „Denen geht es doch nicht um die Sache“, empörte sich der Mann. Vorher habe er mit ein paar von den schwarz gekleideten jungen Menschen gesprochen, „ganz liebe, nette Leute. Die sagten mir, das sei eine Tarnung, so fühlten sie sich in der Gruppe auch sicherer. Aber wenn die friedlich demonstrieren, dann tut ihnen ja keiner was.“ Dass die Polizisten unter ihren Helmen schwarze Sturmmasken tragen würden, finde er „falsch“ – „so sieht man aus, wenn man ne Bank überfällt“.
Ausgebrannte Autos, zerschlagene Scheiben, am nächsten Tag sieht man die Zerstörung der Nacht. Das Standesamt des Bezirks Altona sagt alle Hochzeiten für Freitag ab. Auch hier wurden Scheiben eingeschlagen.
Ab sieben Uhr sammeln sich Demonstranten an mehreren Treffpunkten und laufen los Richtung Messe. Hier treffen einander die Staats- und Regierungschefs der G20.
Auch Alyssa und ihre Mutter Ursula sind dabei. Bevor sie mit den anderen Demonstranten eingekesselt werden, laufen sie weiter. „Am U-Bahnhof Schlumpp war auch die Hölle los.“
In Sichtweite der Messe setzen sie sich dann spontan mit einigen anderen auf den Gehsteig. „Wir wollen Präsenz zeigen, wir leisten friedlich Widerstand gegen die Politik der G20. Wir wollen ein Umdenken, mehr Demokratie und den Schutz der Erde“, sagt Ursula. Die anwesenden Polizisten seien freundlich gewesen. Doch plötzlich sei eine Gruppe aus Berlin angerückt. Brutal hätten die Einsatzkräfte zwei junge Männer zu Boden gedrückt. Als Alyssa – von Beruf Ärztin – helfen habe wollen, sei sie abgeführt worden. Die Mutter zeigt aufgeregt die Fotos, die sie gemacht hat.
Mutter und Tochter stehen nun am Johannes-Brahms-Platz. Von zwei Seiten rollen Kolonnen von Einsatzwägen heran. Auf der Kreuzung und an jeder Ecke stehen Polizisten in kleinen Gruppen, eine Gruppe marschiert die Kaiser-Wilhelm-Straße hinunter, hier skandieren Demonstranten. „Helme ab, zurück in den Ursprungszustand“, weist ein Beamter derweil seine Truppe an in der Parallelstraße an. Man sieht Journalisten mit Fahrradhelmen und zwei Männer mit dem Aufdruck „Sani“.
Ursula und Alyssa versuchen zu ihren Freunden zurückzugehen, die noch Teil der Sitzblockade sind. Doch die Polizei lässt mittlerweile niemanden mehr in die Zone um die Halle – außer mit Presseausweis. Ursulas Mann berichtet später, er habe sich wegtragen lassen. Die Hannoveraner und Hamburger Polizisten seien jedenfalls sehr viel freundlicher als die Berliner.
Bis Freitagmittag waren 20.000 Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet im Einsatz, Unterstützung gab es auch aus Österreich. Hamburg forderte am Freitag weitere Hilfe. Mehrere zusätzliche Hundertschaften rückten an.
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer teilt zu Mittag mit, dass die Polizei eine weitere unruhige Nacht erwarte. Unterdessen konnte die Frau des US-Präsidenten, Melanie Trump, nicht am Partnerprogramm, darunter eine Hafenrundfahrt, teilnehmen. „Wir haben bisher keine Sicherheitsfreigabe zum Verlassen des Gästehauses“, sagt eine Sprecherin.
Mehrere tausend Demonstranten sammeln sich am Nachmittag am Millerntorplatz. Sie wollen am Abend das Konzerthaus Elbphilharmonie blockieren. Am Abend planen hier die Staats- und Regierungschefs der G20 zu essen und Beethovens Neunte Sinfonie zu hören.
Ruhiger dürfte es am Samstag zugehen. Zur Demonstration „Hamburg zeigt Haltung“ hat sich auch New Yorks Bürgermeister und Trump-Kritiker Bill de Blasio angekündigt.
Erschienen in: Wiener Zeitung, OÖN. 6. und 7. Juli 2017