Einbahnstraße in den Terror

Vor 80 Jahren kamen in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht

Es sieht so aus, als habe man aus der Geschichte nichts gelernt, sagte vor einigen Tagen Imre Kertész in „El Pais“. Der Literaturnobelpreisträger bezog sich auf soziale Unruhen, auf den Unmut in europäischen Ländern, auf die Rechtsregierung in Ungarn und verwies auf Parallelen zu Deutschland vor 80 Jahren.

Dieser Zeit gedenkt die Bundesrepublik indes seit der Vorwoche mit dutzenden Veranstaltungen, Vorträgen und Ausstellungen. Immer wieder lernt man: Am 30. Jänner 1933 ist den wenigsten in Deutschland bewusst, was eigentlich passiert ist. Auch Hitler wird sich nicht halten, davon sind viele an jenem Tag überzeugt. In den bürgerlichen Berliner Bezirken Steglitz oder Charlottenburg wiederum sorgt man sich wegen der „bolschewistischen Gefahr“ – dass die Linken in die Schranken gewiesen werden sollen, heißt man hier gut. Und die Politiker der Deutschnationalen Volkspartei meinen ja, Hitler in einer Koalition „zähmen“ zu können. Die Kommunistische Partei ruft zwar zum Generalstreik auf, doch fehlt dafür längst die Basis. So viele haben keine Arbeit, Kommunisten und Sozialdemokraten sind sich zudem spinnefeind. In der letzten freien Rede im Reichstag stellt sich später, am 23. März, der Sozialdemokrat Otto Wels gegen das „Ermächtigungsgesetz“ zur Zerstörung der Gewaltenteilung: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“

Es ist kurz nach zwölf Uhr Mittag, als Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennt. Der Weg wird freigemacht für die „Regierung des Nationalen Zusammenschlusses“. Hitlers NSDAP war im Juli 1932 stärkste politische Kraft geworden, doch Hindenburg wollte Hitler zunächst nicht an der Regierungsspitze. Vizekanzler unter dem deutschnationalen Franz von Papen zu sein lehnte Hitler aber ab. Im November fanden Neuwahlen statt, die politische Lage änderte sich damit nicht. Von Papen begann, mit Hitler geheim zu verhandeln. Sollte Hitler Reichskanzler werden, die Führung würde schon ihm obliegen, taktierte Von Papen und überzeugte Hindenburg: Dem Kabinett würden zudem nur drei Nationalsozialisten angehören, neben Hitler sind das Innenminister Wilhelm Frick und Hermann Göring, er ist Minister ohne Geschäftsbereich. Doch Hitler strebt die Alleinherrschaft an. Und der Terror beginnt sofort.

Vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten trifft die Gewalt der Sturmabteilung (SA) – zuvor paramilitärische Kampforganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), jetzt „Hilfspolizei“. Jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten wird durch Berufsverbote die wirtschaftliche Existenz genommen.

„Wilde“ KZs in Berlin

Wie viele Menschen den Nazi-Terror sofort erfahren, thematisiert nun die von Kanzlerin Angela Merkel eröffnete Ausstellung „Der Weg in die Diktatur“ im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“. Auf dem Gelände im Berliner Bezirk Kreuzberg befand sich das Geheime Staatspolizeiamt mit Gefängnis, die Reichsführung-SS und während des Zweiten Weltkriegs auch das Reichssicherheitshauptamt. Die Ausstellung gibt einen Überblick zur „Machtergreifung“, die vielmehr eine Machtübergabe war, und zeigt Biografien wie jene von Nelly Neppach. Die international erfolgreiche Tennisspielerin wird wegen ihrer jüdischen Herkunft aus ihrem Berliner Verein ausgeschlossen, an Sportveranstaltungen des Deutschen Tennisbundes darf sie nicht mehr teilnehmen. In der Nacht auf den 8. Mai bringt sich Neppach um. Der 1910 geborene Erich Meier, Werkzeugmacher, taucht am 30. Jänner unter: Er ist im Kommunistischen Jugendverband für Deutschland. Die SA findet ihn in seinem Versteck in einer Berliner Kleingartensiedlung, misshandelt und erschießt ihn. In der Stadt gibt es nun „wilde Konzentrationslager“ in Häusern und Kellern.

Nach außen hin soll indes nichts „wild“ aussehen. Die Nazis fürchten einen Wirtschaftsboykott, gerade – noch bevor Hitler Reichskanzler wurde – begann die deutsche Wirtschaft ja wieder, sich zu erholen. Göring spricht also von der „Revolution der Disziplin“. Dafür wird im Sommer der Fackelmarsch der SA durch das Brandenburger Tor nachgestellt. Man will das perfekte Bild. Am Abend des 30. Jänners hatte es das nicht gegeben: Im Siegestaumel ließ man einen Marsch in Reih’ und Glied sehen.

„Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will? Man wollte etwas wirklich Neues: eine Volksherrschaft ohne Parteien, eine populäre Führergestalt“, wird der 1907 in Berlin geborene Publizist Sebastian Haffner in der Ausstellung zitiert; er spricht von einem „sehr verbreiteten Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie. Oder, wie es der Historiker Ian Kershaw formulierte: „Die ungeliebte Weimarer Republik ging zu Ende, jetzt setzte jener Prozess ein, der in einen Abgrund aus Krieg und Völkermord und zur Zerstörung des deutschen Nationalstaates führen sollte. Dieser Weg endete in Auschwitz.“

Antisemitismus ohne Zwang

„Man musste nicht explizit Antisemit sein, um Anhänger der Regierung zu sein, aber man hat Antisemitismus, Ausschluss, Vertreibung und Verfolgung immer miteingekauft“, sagte Michael Wildt, Professor für Deutsche Geschichte an der Humboldt Universität, kürzlich bei einer Veranstaltung der Auslandspresse in Berlin. „Viele haben nicht hinschauen wollen.“

Viele haben zugleich aktiv mitgemacht: Deutsche Fußballmannschaften schließen jüdische Spieler aus, ohne Aufforderung, ohne Zwang. Und als im Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beschlossen wird, gibt es keinen Aufschrei, keine Weigerung der Ärzteverbände. Jeweils ein Richter und zwei Ärzte sollen fortan über Zwangssterilisationen bei Epileptikern, Alkoholikern, Blinden urteilen. Mehr als 200.000 Menschen sind bereits in den ersten drei Jahren betroffen – 90 Prozent von ihnen werden zwangssterilisiert. Und die kulturell pulsierende Stadt Berlin war einmal. Wie sich das Leben hier schlagartig änderte, zeigt das Deutsche Historische Museum mit der Ausstellung „Zerstörte Vielfalt – Berlin 1933-38“.

Und heute? Die Rechtsregierung in Ungarn, die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland, die hohe Arbeitslosigkeit – ist es legitim, Parallelen zu Deutschland 1933 zu ziehen? „Die Welt nach Auschwitz ist eine andere als zuvor“, sagt Historiker Wildt. Doch sei Achtsamkeit eher angebracht als die Einschätzung, es handle sich um eine ganz andere Situation. An welchen Orten, mit welchen Akteuren, welchen Handlungs-Optionen wird Gewalt ausgeübt? Wie sieht es heute mit der alltäglichen Zivilcourage aus? Das sind Fragen, die zur Erinnerungskultur gehören. „Geschichte hat ja nur Sinn, wenn sie uns in der Gegenwart etwas zu sagen hat.“

Erschienen in: Wiener Zeitung 02/13

About the author