Ofer Waldman: Demokratieabbau in Israel fing mit der Besatzung an

Der umstrittene Justizumbau und die Besetzung der palästinensischen Gebiete hängen zusammen: Das betont der Israel-Experte Ofer Waldman im Gespräch mit der APA. „Die besetzten Gebiete, die Siedlungen, das ist der Raum, in dem das undemokratische Gedankengut entwickelt wurde, das jetzt über Israel hereingebrochen ist“, so Waldman. „Die Flammen, die seit über fünf Jahrzehnten im Westjordanland lodern, haben nun Tel Aviv erreicht.“

Am Montag hatte das israelische Parlament ungeachtet anhaltender Proteste im Land einen entscheidenden Teil des Justizumbaus der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gebilligt. Die sogenannte Angemessenheitsklausel nimmt dem Obersten Gericht die Möglichkeit, Regierungsentscheidungen als „unangemessen“ einzustufen und sie außer Kraft zu setzen. Seit Monaten gehen Hunderttausende Menschen in Israel gegen die Pläne auf die Straße. Der Autor und Journalist Waldman ist einer von ihnen. Der 44-Jährige lebt in einem Vorort von Haifa, wo ebenfalls demonstriert wird. „Von der syrischen Grenze im Norden bis zur Wüste im Süden sehen Sie Demonstrationen.“ Der „nächste große Höhepunkt“ sei für Samstag geplant.

Österreichs Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hatte sich in einer ersten Reaktion auf den Parlamentsbeschluss über die Proteste besorgt gezeigt: Es sei „besorgniserregend, dass die Proteste zu eskalieren scheinen“, sagte sie am Dienstag in Wien. Israel sei eine Demokratie, ein Parlamentsbeschluss sei gefallen, es gebe keine Alternative zur Rechtsstaatlichkeit. „Wir können uns von außen keine abschließende Meinung anmaßen“, so Edtstadler. Man werde die Situation weiter beobachten.

Dass die Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gehen würden, sei „erst Recht das Zeichen für das tiefe demokratische Verständnis“, sagt dagegen Waldman. Das, was im Parlament vor sich gehe, sei „kein Zeichen von Demokratie, sondern das Wüten einer zwischenzeitlichen, schmalen Mehrheit, die sich vom urdemokratischen Prinzip der Gewaltenteilung freimachen möchte“. Und dabei handle es sich auch nicht um eine innerisraelische Angelegenheit, so Waldman: „Es geht um die gemeinsamen demokratischen Werte, die man immer wieder betont. Wenn diese Werte erschüttert werden, dann geht das unsere Freundinnen und Freunde in der Welt etwas an.“

Vor allem in Deutschland und Österreich höre man oft: „Kann man denn Israel kritisieren nach all dem, was passiert ist? Ja, kann man. Das machen Freunde. Sie sehen einen Freund am Abgrund oder auf eine Katastrophe zusteuern. Da sagen Sie: ,Hör mal, das geht böse aus!'“ Die Wirtschaft leide ohnehin bereits unter dem „Staatsstreich“, wie Waldman den Justizumbau bezeichnet. Israel, so Waldman, stehe vor einer existenziellen Gefahr, die so vor keinem äußeren Feind hätte kommen können.

„Israel hat so lange diese undemokratischen Räume zugelassen und jetzt rächt sich das“, sagt Waldman in Bezug auf die seit 1967 besetzten Gebiete, das Westjordanland und Ostjerusalem. Die israelischen Regierungen seien „unfähig“ gewesen, die Besatzung zu beenden, so Waldman und verweist auf eine Ausnahme: den 1995 von einem jüdischen religiösen Fanatiker ermordeten Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin. „Das Erschütternde ist, dass diejenigen, die das politische Klima für den Mord ermöglicht haben, jetzt an der Macht sind. Sie haben das erreicht, was sie mit dem Attentat an Rabin erreichen wollten: Dass die Ideologie der Siedler in Israel die Überhand gewinnt. Und dagegen erhebt sich jetzt das demokratische Lager.“

Waldman nennt „drei führende Köpfe“ der amtierenden Regierung, die aus den Siedlungen kämen: Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, Finanzminister Bezalel Smotrich sowie den Abgeordneten der Religiösen Zionisten, Simcha Rothman, Vorsitzender des Justizausschusses und Architekt des Justizumbaus. Nun soll sich Israels Oberstes Gericht im September mit den Einsprüchen gegen den umstrittenen Justizumbau befassen. Seine Hoffnungen setzt Waldman nicht darauf. Bis dahin könne noch viel passieren: „Im Nahen Osten und speziell in Israel sind eineinhalb Monate eine Ewigkeit.“

Hoffnung machten ihm die acht bis zehn Prozent der Bevölkerung, die Woche für Woche auf die Straße gingen. Und: In den vergangenen Tagen hätten ehemalige und amtierende Führungspersönlichkeiten der Armee, des Auslandsgeheimdienstes Mossad und des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet Ministerpräsident Netanyahu in öffentlichen Petitionen „Stopp“ gesagt und es gäbe „mehr und mehr Pilotinnen und Piloten, Reservistinnen und Reservisten der Kampfeinheiten, die sagen, wir werden keiner Diktatur dienen. Wenn das so weiter geht, ist das viel gravierender und schneller als eine Entscheidung des Obersten Gerichts“.

In Israel mangle es an Politikerinnen und Politikern mit einer tragfähigen, friedlichen, demokratischen Zukunftsvision, so Waldman. Es gebe eine Führungsschwäche im liberalen, demokratischen Lager. Doch stehe die Regierung Netanyahus in den Umfragen nicht gut da. „Sollte das demokratische Lager wieder an die Macht kommen und sollte die aktuelle Situation dazu führen, dass man das Thema der Besatzung noch einmal angeht, dann ist meiner Ansicht nach die jetzige Krise eigentlich die Geburtsstunde eines neuen Israels.“

APA/2023-07-28

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