Mahmoud will ans Meer

„Heast, Oida“, schimpft Mahmoud. Der Autofahrer vor ihm regt den Palästinenser auf. Mahmoud ist Ende zwanzig und hat gerade einen Tag am Strand verbracht, in Tel Aviv. Erlaubt ist ihm das nicht. Mahmoud bekam zwar vor einigen Jahren einmal von den israelischen Behörden das Okay, über die israelisch-jordanische Grenze auszureisen, um von Amman aus ins 2.500 Kilometer entfernte Wien zu fliegen. Hier lernte Mahmoud auch den landestypischen Wortschatz. Den Flughafen in Tel Aviv zu nutzen, ist ihm indes untersagt. Und auch ans 45 Kilometer entfernte Meer darf er nicht: Als junger palästinensischer Mann, der im Westjordanland lebt, gilt er als potentieller Attentäter.

„Sicherheit“ ist das große Thema Benjamin Netanjahus. Im Wahlkampf verweist der Regierungschef deshalb immer wieder auf die Palästinenser: Israel, so schrieb Netanjahu kürzlich ja auf Instagram, sei „nicht ein Staat aller seiner Bürger“: „Unserem Nationalstaatsgesetz entsprechend ist Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes – und nur das.“

Im Westjordanland sind viele ernüchtert. Auch von der palästinensischen Führung erwarte er sich nichts, sagt ein junger Mann: „Korrupter Haufen.“ Eine Frau sagt, der Wahlkampf in Israel würde die Palästinenser nicht sonderlich interessieren: „Wir rechnen mit Netanjahu oder jemand noch extremeren.“ Was viele hier umtreibe, sei der Kampf, das tägliche Leben zu finanzieren und zu meistern.

705 Checkpoints und Blockaden
In der Westbank gibt es 705 permanente „Hindernisse“ für Palästinenser. Diese Zahl hat OCHA, das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, für Juli 2018 ermittelt. Sie liegt um drei Prozent höher als im Dezember 2016, schreiben die OCHA-Autoren auf der Webseite. „Hindernisse“ bedeuten Checkpoints, Straßensperren, Blockaden, Erdwälle, Schranken, Gräben. „An den Checkpoints entlang der Mauer oder an den Straßen, die ins von Israel besetzte Ostjerusalem führen, finden durchgehend strikte Kontrollen statt und nur jene, die eine spezielle Erlaubnis haben, dürfen passieren.“ Dem Großteil der Palästinenser sei dies verboten.

Am Checkpoint, der den Weg nach Tel Aviv öffnet oder verschlossen lässt, wird an zwei Spuren kontrolliert. Mahmoud hat ein Auto von einem Bekannten organisiert, das sowohl in den drei verschiedenen Zonen der Westbank als auch in Israel fahren darf: Das Nummernschild und dessen Farbe gibt darüber Auskunft. Mahmoud ist ein wenig nervös. Aber er hat Glück. Er sieht touristisch aus. Das Auto wird durchgewinkt. In Tel Aviv parkt Mahmoud den Wagen. Dann rennt er ins Meer. Am Abend schlendert er durch die Straßen wie jeder andere Tourist. „Ich habe Lust auf Sushi“, sagt er. Das ist in Tel Aviv kein Problem.

„Wir wollen uns frei fühlen. Wir probieren deshalb alles, was geht“, sagt Fathi, ein Palästinenser in Ramallah, als er die Geschichte hört und erzählt gleich eine eigene: 2005 wollte er mit einem Freund in Jerusalem ein Bier trinken gehen. Ohne über mögliche Folgen nachzudenken, seien sie über die Mauer geklettert.

Nachdem Ende September 2000 die Zweite Intifada begonnen hatte, kündigte Israel an, einen „Sicherheitszaun“ zu bauen. Von Anfang an hielt sich Israel dabei in weiten Teilen nicht an die Waffenstillstandslinie von 1949.

Während die einen Israelis froh sind um die Sperranlage, kritisieren andere sie hart: Die Intifada habe nicht wegen der Mauer aufgehört, sagt etwa der israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard, Enkel polnischer Holocaust-Überlebender und Verteidiger palästinensischer Klienten. „Die Mauer wurde gebaut, um Land zu stehlen.“ Sfard tritt dafür ein, dass die Besatzung endet. Das gleiche Anliegen verfolgt „Breaking the Silence“, eine Organisation ehemaliger israelischer Soldaten, die von ihren Einsätzen in den besetzten Gebieten berichten und von politischen Beschlüssen und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung. Dazu zählt die Entscheidung, einen Teil der Checkpoints zu privatisieren. „Die Checkpoints wurden kleiner, die Firmen wollen ja Geld sparen. Damit stieg aber der Druck bei den wartenden Menschen. Es gibt mehr Konflikte“, sagt die ehemalige Soldatin Merphie.

Der Checkpoint zu Jerusalem – Qalandia – ist groß. Doch auch hier kann es lange Wartezeiten geben. Auch der Ton der Soldaten bei den Kontrollen ist unterschiedlich. Manche grüßen freundlich auf Arabisch.

„Ich kann Ihnen sagen, wer am Checkpoint Inhaber der Bluecard oder der Greencard ist. Man sieht es an den Gesichtern“, sagt ein Palästinenser in der Buchhandlung „Educational Bookstore“ in der Salah-Eddin-Straße in Ostjerusalem. Hier gibt es englische und arabische Bücher – viele sind politisch und handeln vom Nahen Osten, außerdem werden Muffins, Kuchen und Kaffee angeboten. Er selbst habe als Bewohner Ostjerusalems eine „Bluecard“ der Israelis und einen jordanischen Ausweis, sagt der Mann. Die der Bluecard sei Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnis für Israel und Passagierschein für die Checkpoints. Mit dem jordanischen Ausweis komme er nach Syrien oder in den Libanon. Besitzer der palästinensischen „Greencard“ müssten um eine spezielle Erlaubnis ansuchen. Das koste Geld und sei oftmals erfolglos.

Mahmoud ist fast am Checkpoint angekommen, bald ist er wieder in Ramallah. Durch das Auto dröhnt ein Lied des australischen Comedians Tim Minchin: „Friedenshymne für Palästina.“ Minchin besingt darin das Schwein und die Möglichkeit, es als friedensstiftende Verbindung zwischen Juden und Palästinensern zu sehen: „We don’t eat pigs and you don’t eat pigs, it seems it’s been that way forever. So if you don’t eat pigs and we don’t eat pigs: Why not – not eat pigs together.“ Das Gemeinsame vor das Trennende stellen – eine Vision, die Netanjahu nicht teilt.

Erschienen in: Wiener Zeitung 04/2019

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