Eine Stunde Strom am Tag, Schlangen vor Bäckereien, zunehmender Hass gegenüber Geflüchteten: Die Lage im Libanon habe sich „dramatisch“ verschlechtert, sagt die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung im Libanon, Anna Fleischer, im Gespräch mit der APA. „Der Staat bricht zusammen.“ Zum zweiten Jahrestag der Explosion im Beiruter Hafen am Donnerstag sind erneut Proteste gegen die Regierung angekündigt, gegen Vertuschung, Korruption und Untätigkeit.
Bereits vor einem Jahr präsentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch weitere Beweise für den Vorwurf, dass die Regierung die Explosion hätte verhindern können. In einer ungesicherten Halle im Beiruter Hafen hatten sechs Jahre lang 2750 Tonnen Ammoniumnitrat gelagert – bis sie am 4. August 2020 explodierten und mehr als 200 Menschen töteten. Tausende Menschen wurden verletzt und große Teile des Hafens und anliegende Wohngebiete zerstört.
Währungsverfall und „brutaler“ sozialer Abstieg
Zu diesem Zeitpunkt war die Wirtschaftslage bereits katastrophal. Das Land ist hoch verschuldet. Der Libanon produziert wenig und ist auf Importe angewiesen. Jahrelang lockten die Banken vor allem im Ausland lebende Libanesen mit sehr hohen Zinsen und investierten selbst wiederum in Staatsanleihen. Die Schuldenquote des Libanon stieg rasant. Die Währung – seit 1997 an den US-Dollar gekoppelt – verfiel. Seit dem Sommer 2019 galt der jahrelange Tauschwert (1500 libanesische Pfund – 1 US-Dollar) nicht mehr, auf dem Schwarzmarkt wird der Dollar seither teurer und teurer. Als die Regierung im Herbst 2019 eine Steuer auf Whatsapp-Dienste ankündigte, reichte es den Menschen: Überall im Land wurde demonstriert. Die Corona-Pandemie verschärfte die Lage.
Die Kaufkraft im Land habe „extrem abgenommen“, sagt Fleischer. Vor drei Jahren habe man für 150.000 Lira 100 US-Dollar bekommen. Nun sind es rund fünf Dollar. Seit Herbst 2019 kommen die Menschen kaum noch an ihr Erspartes auf der Bank – das wenige, das sie abheben dürfen, ist fast nichts mehr wert. „Der soziale Abstieg ist brutal“, sagt Fleischer. Junge Libanesen würden aus ihren Wohnungen aus- und wieder bei ihren Eltern einziehen, da Mieten fast ausschließlich in Dollar bezahlt werden müssten – und somit zunehmend unerschwinglich seien. Außerdem würden Banken „horrende Gebühren“ für Überweisungen verrechnen. „Das Vertrauen in das Bankensystem ist ohnehin erschüttert.“
Getreidesilo-Brand im Hafen als Symbol für Untätigkeit
Strom gibt es seit Monaten eine Stunde pro Tag. Wer es sich leisten kann, hat Solartechnik installiert oder betreibt zwei Generatoren. „Einer läuft schnell heiß“, sagt Fleischer. Ungeachtet der Knappheit von Strom riet die libanesische Regierung zuletzt, in Beirut Fenster und Türen geschlossen zu halten und die Klimaanlagen einzuschalten: Zwei Wochen lang brannte im Hafen ein bei der Explosion vor zwei Jahren schwer beschädigter Getreidesilo. Rauch und Gestank beschrieben Bewohner als unerträglich. Anfang der Woche stürzte das Weizenlager ein. Das Lager gilt vielen als Symbol für die Untätigkeit der Regierung – und für Verschleierung der Hintergründe für die schwere Explosion.
„Aufklärung kann man vergessen“, sagt Said Arnaout. Der Sozialpädagoge ist in Beirut aufgewachsen und lebt seit seinem Studium in Deutschland. Zurzeit organisiert er seine siebente Hilfsaktion seit der Hafenexplosion. In ein paar Tagen bricht er in den Libanon auf, um die Spendengelder zu übergeben. Unterstützt werden sollen Menschen, die nach wie vor ohne Wohnung sind sowie palästinensische und syrische Geflüchtete. Die Armee überwache zwar den Wiederaufbau – finanzielle Hilfen gebe es aber nicht: „Der Staat ist pleite“, sagt Arnaout und berichtet von einer Mutter, die den Bagger selbst bezahlen musste, der die Leiche ihres Sohnes ausgegraben habe. Am Hafen habe es auch viele billige Unterkünfte für Migranten und Geflüchtete aus Syrien, Pakistan und Indien gegeben. Viele Menschen seien weiterhin obdachlos.
„Die Situation im Libanon ist Wahnsinn“, sagt Arnaout. Gerade habe die älteste Buchhandlung im Libanon – „Antoine“ – geschlossen. Man lebe von der Hand in den Mund – und, wer Glück habe, von Verwandten, die im Ausland lebten und im Sommer zu Besuch kämen mit Bargeld im Gepäck. „Früher war der Libanon einmal die Schweiz des Nahen Ostens“, sagt Arnaout. „Heute ist es schwierig, an Strom, Wasser und Brot zu kommen.“
Vor vielen Bäckereien gebe es mittlerweile zwei Schlangen, eine für Männer und eine für Frauen, damit diese nicht belästigt würden. Vor einem Jahr habe ein Beutel mit sechs arabischen Fladenbroten 1500 libanesische Pfund gekostet, nun bezahle man dafür 13.000 Pfund. „Zum Glück“ sei nun ein Schiff mit Getreide von Odessa auf dem Weg nach Beirut.
Geflüchtete werden zu Sündenböcken gemacht
In dieser angespannten Situation zeigen auch Regierungsvertreter auf vermeintliche Sündenböcke: Mitte Juli verkündete Wirtschaftsminister Amin Salam, laut „seiner Quellen“ hätten Syrerinnen und Syrer jeden Tag im Juni 400.000 Sackerl mit arabischem Brot konsumiert. Der Ton gegenüber Geflüchteten sei noch einmal rauer geworden, seit der Minister für Vertriebene, Issam Charafeddine, Anfang Juli erklärt habe, dass die Regierung monatlich 15.000 Syrerinnen und Syrer in ihr Herkunftsland zurückbringen wolle, schrieb „L’orient today„.
Schätzungen zufolge befinden sich 1 bis 1,5 Millionen aus Syrien Geflüchtete im Libanon. Das Land mit seinen rund 6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern hat im Verhältnis die meisten geflüchteten Menschen aufgenommen. Staatliche Unterstützung gibt es für sie meist keine – so wie für die Palästinenserinnen und Palästinenser, die teilweise seit Jahrzehnten in den zwölf libanesischen Flüchtlingslagern leben und auf die Unterstützung des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) angewiesen sind.
„Die Gewalt gegenüber Geflüchteten nimmt zu, Menschen werden verprügelt, ein Lager wurde abgebrannt. Die Schere zwischen Arm und Reich ist extrem aufgegangen“, sagt Fleischer von der Böll-Stiftung, die örtliche Projekte für Umweltschutz, Demokratieförderung und im Kulturbereich unterstützt. Viele, die könnten, würden das Land verlassen. „Der Brain-Drain ist enorm“. Allerdings sei es zurzeit schwer, einen neuen Pass zu erhalten: Das französische Unternehmen, das mit dem Druck der libanesischen Pässe beauftragt sei, warte auf die Bezahlung der Rechnungen. Auch meldet „L’orient today“, dass seit dem Anstieg der Krise immer mehr Ansuchen um Visa von Europa und den USA abgelehnt würden.
Werden jene 13 Abgeordnete, die im Mai neu ins Parlament gewählt wurden und nicht den traditionellen Parteien angehören, einen Unterschied machen? Es handle sich um keine Fraktion, gibt Arnaout zu bedenken. „Einige werden aber zumindest versuchen, etwas zu verändern.“ Die Wahl dieser Abgeordneten wertet Fleischer als Zeichen des Protestes. Veränderungen bräuchten allerdings „einen langen Atem“.
Für: Erschienen in: APA/TT Wiener Zeitung 08/2022