Schokolade für die Toten: Allerseelen in Mexiko

Die Toten gehen heute recht traurig von uns, sagt Sofia. Die etwa 30 Jahre alte Frau schaut zum Himmel hinauf. Regenwolken sind aufgezogen. 24 Stunden sind die Verstorbenen bei ihrer Familie im südmexikanischen Zapoteken-Dorf Teotitlán del Valle zu Gast. Bald kehren sie ins Totenreich zurück, denn es ist gleich 15 Uhr. Der día de los muertos geht zu Ende. Noch sind die Toten anwesend. In einem Raum des Hauses haben die Frauen der Familie wie jedes Jahr im Oktober einen Altar für die Toten errichtet. Auf dem Tisch liegen Dutzende Blüten, die die Azteken als Totensymbole betrachteten. Die orange Erdfarbe und der Duft der cempazuchitl -Blüte sollen den Seelen den Weg zur Erde weisen.

Die Seele jedes Verstorbenen kehrt ein Mal im Jahr zu den Lebenden zurück, glaubten die Azteken, die Mexica, und das glauben auch Sofia und ihre Familie. Auch der copal , der Weihrauch, und das Licht der vielen kleinen und großen Kerzen helfen den Toten, zurück zur Erde zu finden. Die Frauen platzierten die Lichter zwischen den vielen Früchten – Orangen, Bananen und Zuckerrohr –, Symbole für das Leben: „Das Leben ist manchmal süß, manchmal sauer und manchmal bitter“, sagt Sofias Schwester Violetta.

Die Größe der Totenbrote, pan de muertos, zeigt, wie alt die Verstorbenen geworden sind. Die Kleinsten sind für die Kinder, die angelitos, die Engelchen. Sie sind schon am 1. November, nach ihrem eintägigen Erdbesuch, ins Engelsreich zurückgekehrt. In die Brote sind Zuckerstückchen oder andere harte Zutaten eingebacken, die die Gebeine symbolisieren. Oft ist das pan mit Gesichtern dekoriert. „Uns ist wichtig, dass darauf Gesichter zu sehen sind. Auf dem Markt wird oft nur schlichtes süßes Brot angeboten“, sagt die 87-jährige Großmutter, die abuelita , wie sie von der Familie genannt wird. Das „Großmütterchen“ ist die Herrin des Hauses und die Chefin des Altars. Unter ihrer Aufsicht stellen die Frauen die Bilder der Verstorbenen und die Kreuze auf den Tisch, legen die kleinen Totenköpfe aus Zucker und Schokolade, die mit grell-buntem Zuckerguss verziert sind, die schelmisch grinsenden Plastikskelette und die papel picado, die bunten Scherenschnittbilder und Girlanden aus Seidenpapier, dazwischen. Für einen Verstorbenen, der Coca Cola mochte, steht eine Flasche bereit; die meisten mochten Corona, also gibt es für sie Bier. „Die Schokolade haben wir erst gestern gemacht, damit die Toten sie frisch haben“, erzählt die Großmutter. Die Toten kamen am 1. November um 15 Uhr, begleitet von den Glocken der Dorfkirche. „Diejenigen unter uns, die die Toten sehen, sehen sie auch kommen und wieder gehen“ , sagt die alte Frau. Sie kann sie sehen. Die spanischen Eroberer haben das Fest, das die Mexica im August feierten, in die katholischen Allerheiligen- und Allerseelen-Feiern integriert. Nach dem Feiertag zu Ehren der heiligen Jungfrau von Guadalupe am 12. Dezember ist Muertos das wichtigste Fest in Mexiko, und auch hier im Dorf. Viele Männer, die aus Teotitlán del Valle stammen, sind ausgewandert, suchten in der Hauptstadt oder in den USA Arbeit. Zu Muertos kommen sie nach Hause. Wer nicht kommen kann, weil er etwa illegal beschäftigt ist, schickt zumindest Geld.

So sind heute fast alle anwesend, Lebende und Tote. Die Frauen bereiten tamales, in Mais- oder Bananenblättern gekochten Maisbrei, heiße Schokolade, für die eine der Frauen die Kakaobohnen am Markt gekauft hat, und mole, eine dicke Sauce aus vielen Zutaten – unter anderem Schokolade, Chili und Erdnüsse -, die drei Tage lang gekocht wird. Was die Toten nicht essen und trinken, bleibt der Familie. „Alles, was wir nicht auf den Friedhof mitnehmen, essen wir innerhalb der nächsten 40 Tage“, sagt Sofia.

Die Toten neben dem Haus

Nachdem sich die Toten am 2. November um 15 Uhr verabschiedet haben, zieht die Familie zum Friedhof. Bis vor 50 Jahren wurden die Verstorbenen gleich beim Haus begraben. „Dort, wo man geboren ist, stirbt man auch“, sagt die Großmutter. Als die Familie ihr Haus erweiterte, stieß sie auf Skelette. Sie beließ sie dort: „Die Toten können schließlich nichts dafür, dass wir den Brauch geändert haben und Verstorbene nun am Friedhof begraben“, erklärt die Großmutter. „Die Toten, die beim Haus beerdigt sind, wollten dort sein – und daher bleiben sie es auch.“

Eine Mariachi-Band mit Geigen, Gitarren und Trompeten spielt zuerst in der Friedhofskapelle und zieht dann von Grab zu Grab. Für ein paar Pesos spielen sie die Lieblingsmusik der Verstorbenen. Tausende orange Blumen schmücken den Friedhof, die mitgebrachten Gaben zieren die Gräber, um die sich die Familien versammelt haben. Man sitzt auf oder neben den Gräbern, isst, trinkt, lädt andere Besucher ein, etwas pan de muertos, eine Orange oder einen ordentlichen Schluck vom mezcal – Agavenschnaps – zu nehmen und mitzufeiern. „Hier liegt meine Frau“ , sagt ein Mann. Seine erwachsenen Töchter, die das Grab pflegen, versuchen ihren völlig betrunkenen Vater in Zaum zu halten, doch Juan ist gesprächig und gastfreundlich: „Orange! Mezcal!“ ruft er und bietet Früchte und Schnaps an. Juan feiert seit gestern – wie ganz Mexiko.

Skelette aus Sand

In dem eine halbe Autostunde von Teotitlán del Valle entfernten Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates, haben in der Nacht auf den 2. November viele Touristen mitgefeiert. Bei Einbruch der Dunkelheit war der Friedhof voll von Menschen. Bewohner von Oaxaca haben stellvertretend für die Region Mexikos, aus der sie stammen, Bilder aus buntem Sand gestaltet: Skelette, die musizieren und ausgelassen miteinander tanzen. Der Körper ist vergänglich, die Seele lebt weiter und feiert. Eine Gruppe führt ein Theaterstück auf, der Tod wird verhöhnt und verlacht. Eine Blaskapelle spielt auf. Auf den Straßen, die vom Zentrum zum Friedhof führen, werden Tortillas auf Holzkohlenglut gebacken, Händler bieten ihre Waren an. In jenen Häusern, deren Türen geöffnet sind, sind in den Innenhöfen die Altäre für die Toten zu sehen. Aus den cantinas, den Bars, kommt laute Musik.

Am 2. November nach 15 Uhr geht für viele Reisende das Spektakel in Teotitlán del Valle weiter. Es sind vor allem junge Rucksacktouristen, die Mariachi-Bands, Blumen, betrunkene Männer und Menschen, die am Grab essen, sehen und fotografieren wollen. Die Bewohner von Teotitlán del Valle scheinen sich an die Besucher aus Europa und vor allem den USA gewöhnt zu haben – oder versuchen sie, diese nicht mehr wahrzunehmen?

Manche scheinen sich über die neugierigen Gäste zu freuen, wollen wissen, woher sie kommen, wie sie heißen und offerieren ihnen – Orangen und Mezcal. Muertos ist ein Fest des Schenkens, das zeigt sich auch an der Gastfreundlichkeit am Friedhof. Überall im Land verschenkt man Zuckertotenköpfe, Schokoladesärge und Plastikskelette, es ist ein ständiges Austauschen von Gaben. Das gesellschaftliche Leben im Dorf soll aufrechterhalten bleiben: „Auch deshalb ziehen wir Frauen nicht in die USA nach“ , sagt Sofia. Tradition und Globalisierung, indigene Wurzeln und europäische Kultur, Individualität und Gemeinschaft sind in ganz Mexiko vereint.

Es ist kühl geworden und es regnet noch immer. Die Familie ist vom Friedhof zurückgekehrt. In 40 Tagen wird sie den Altar abbauen. Sie wird die Bilder, die Kreuze, die Figuren und Kerzen verstauen. Nächstes Jahr im Oktober werden die Frauen sie wieder hervorholen, und der Altar wird noch reichhaltiger bestückt sein. Sofia lacht und sagt: „Jedes Jahr kommt mindestens ein neues Stück dazu.“

Erschienen in: Extra. Wochenendbeilage der Wiener Zeitung

Datum: 10/2005

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