Moshe Zimmermann: Länder müssen Druck auf Israel erhöhen

Ob Österreich, Deutschland oder die USA: Die internationale Gemeinschaft muss den Druck auf Israel verstärken. Das fordert der linksliberale israelische Historiker Moshe Zimmermann im Interview mit der APA. „Wenn man auf der Seite Israels stehen will, gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit, sollte man die Kräfte unterstützen, die Demokraten sind, die liberal sind und für den Frieden“, sagt er.

Seit Wochen gehen tausende Israelis auf die Straße. Der 79-jährige Zimmermann protestiert mit, „klar“: Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu plant, die Justiz umzubauen und so die Gewaltenteilung zugunsten einer Übermacht der Exekutive, die auf einer automatischen Mehrheit im Parlament beruht, zu opfern. Davon würde auch Netanyahu selbst profitieren. Ihm droht wegen Korruption eine lange Gefängnisstrafe.

Seine Regierungspartner spielen mit. Denn durch die „Demontage“ der Justiz – so Zimmermann – werde die Annexion der palästinensischen Gebiete vorangetrieben. „Wir zeigen, wer der Herr im Hause ist, im Kernland Israel und auch auf dem Tempelberg, das war von Anfang an der Slogan des heutigen Polizeiministers.“ Itamar Ben-Gvir ist der Vorsitzende der Partei Otzma Yehudit, die Zimmermann „extremistisch, rassistisch, antiarabisch, antimuslimisch, religiös-fundamentalistisch“ nennt. Ben-Gvir suche die Eskalation. „Eigentlich gibt es für Netanyahu nur einen Ausweg: Diese Partei als Koalitionspartner loszuwerden“, sagt Zimmermann. „Das tut er aber nicht, weil diese Koalition für seine private Sache, seinen Prozess, nützlich ist.“

Der Druck von außen ist laut Zimmermann zu schwach. Wie auch andere israelische Intellektuelle – beispielsweise die Soziologin Eva Illouz – ortet er eine falsch verstandene Solidarität besonders von Deutschland. Für Zimmermann bedeutet Kritik an einer israelischen Regierung nicht automatisch Kritik am Staat Israel und Antisemitismus.

„Doch selbst, wo Druck von außen droht, wird er nicht ernst genommen“, so Zimmermann und spricht von „der Arroganz der Ethnozentristen in Israel“. So müsse die internationale Gemeinschaft den Druck erhöhen, auch mit Wirtschaftsmaßnahmen. Das wiederum könnte auch den Druck von innen verstärken, nämlich von Wirtschaftstreibenden, die etwas zu verlieren hätten.

Unterstütze man aus falsch verstandener Solidarität „Rechtsradikale und Faschisten, hat man wahrscheinlich aus der Vergangenheit überhaupt nichts gelernt“, so Zimmermann. Der emeritierte Professor der Hebräischen Universität Jerusalem ist einer der renommiertesten Experten für europäische Zeitgeschichte und die Geschichte des Nationalismus und Antisemitismus. Einer seiner früheren Studenten ist heute sein Kollege und die Stimme der Proteste: Yuval Noah Harari, Autor weltweit bekannter Bücher wie „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. „Wir haben Glück, dass wir so eine Stimme haben“, sagt Zimmermann.

Für Zimmermann steht fest, dass die „Menschen in Israel heute mehr als vor der Wahl in Israel begreifen, wie weit diese Politik führen wird. Man versteht endlich, dass es um unsere Freiheiten im Alltag geht.“ Dass es auch um die Palästinafrage, um ein friedliches Miteinander geht, stehe indes nicht im Vordergrund der Demonstrationen. Der Versuch, israelische Araber in die Gegendemonstrationen einzubeziehen, sei eher marginal, „da man weiß: In diesem Moment verliert man die Unterstützung jener Israelis, die eher aus der Mitte des politischen Spektrums kommen, jedenfalls nicht aus dem linken Flügel.“ Die Demonstrationen stehen im Zeichen der israelischen Flagge. „Das bedeutet, dass wir die 20 Prozent Israelis marginalisieren, die Araber sind“, sagt Zimmermann. „Denn die Symbole der Flagge sind jüdisch und selbstverständlich für Araber, die diskriminiert und benachteiligt sind im Land, nicht ihr Symbol.“

Netanyahu habe konsequent versucht, die Palästinafrage verschwinden zu lassen mit dem Verweis: Die Gefahr sei der Iran. „Ben-Gvir und seine Partei betonen immer wieder: das Problem sind die Araber. Die Unruhen kommen von ihnen, innerhalb und außerhalb Israels. Deshalb müsse man mit noch mehr Gewalt gegen sie vorgehen.“

Aber warum haben so viele Netanyahu gewählt mit dem Wissen, dass er eine ultrarechte Regierung bilden dürfte? Zimmermanns Erklärung: Die israelische Gesellschaft sei „zu illiberal in ihrer demokratischen Auffassung geworden, zu religiös im orthodoxen Sinne, sehr stark ethnozentristisch, nationalistisch, rassistisch“.

Sozialdemokratische, linke, liberale Parteien hätten es schwer im heutigen Israel. Die Sozialdemokratie sei einst sehr stark gewesen, aber nicht „zeitgemäß“ geblieben. Ohne föderalistisches System wie in Österreich oder Deutschland könne sich eine sozialdemokratische Partei auch nicht zumindest in einer Länderregierung profilieren. „Vor allem dieses ‚Wir gegen die Araber, wir haben einen Feind, wir sind im ewigen Kampf‘. Diese Situation schwächt eine Sozialdemokratie oder eine liberale Partei heute umso mehr.“ Auch würden in Schulen und Medien jene Stimmen lauter, die in Richtung Fundamentalismus, Illiberalismus, Nationalismus und Rassismus gingen.

Als Ausgangspunkt für diese Entwicklung nennt er zunächst die erste Regierung unter Netanyahu 1996. „Yitzhak Rabin wurde ermordet, Netanyahu hat die Wahl gewonnen mit dem Slogan ‚Netanyahu ist gut für die Juden‘, das heißt: schlecht für die Palästinenser, die wir hassen. 1996 ist ein bedeutender Wendepunkt.“

Man könne aber auch mehrere Schritte weiter gehen und tiefer in die Vergangenheit greifen: 1977 wurde der Likud zum ersten Mal Regierungspartei – „seither ist Israel auf dem Weg, national und rechtspopulistisch regiert zu werden“. Oder 1967, als Israel das Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem eroberte. „Da begann der radikale jüdische Nationalismus, der auch religiös gefärbt ist, seine Blütezeit.“

Andere Historiker würden wiederum auf die Gründung des Staates Israels verweisen als Provokation für die arabische Umgebung. „Und dann kann man noch den entscheidenden Schritt weitermachen und sagen: Schon die Tatsache, dass der Zionismus entstanden ist, war der Auslöser für all diese Misere, die wir bis heute haben. Da entsteht ein jüdischer Nationalismus als Reaktion auf den Antisemitismus in Europa, Theodor Herzl entscheidet sich für die Auswanderung der Juden nach Palästina als wäre Palästina ein leeres Land. Diese Auswanderung, die national gesinnt ist, provoziert die Palästinenser, die Araber, die dort leben und seitdem befinden wir uns in dieser Situation.“

Was auch immer man als Ausgangspunkt für die heutige Lage nehme: In jeder Phase, zu jedem Zeitpunkt habe es mehr als eine Alternative gegeben. „Und auch jetzt gibt es mehr als eine Alternative. Die letzten Verhandlungen mit den Palästinensern liefen bis zum Jahr 2014, das heißt es gab einen Versuch unter der Ägide der UNO und vor allem der US-amerikanischen Administration, etwas zu bewegen. Man kann durchaus zurückkehren zu dieser Vorstellung, zu dieser Vision: Beide Seiten können miteinander etwas erreichen.“

Dafür brauche man aber die Unterstützung der Bevölkerung. „Und im Zeitalter des Populismus ist es viel einfacher für die politische Führung mithilfe von populistischen Mitteln in die Gegenrichtung zu laufen: Mehr Feindschaft, mehr Konfrontation, mehr Angst schüren. Das sieht man in Europa, das kann man noch deutlicher in Israel sehen.“

Netanyahu wird aber so schnell nicht gehen: „Seine Koalition der Rechtsradikalen lässt Netanyahu fest im Sattel sitzen.“ Selbst, wenn ein Koalitionspartner ausgetauscht würde, wäre für Netanyahu stets die Bedingung, Regierungschef zu bleiben, zumindest vorerst. Und auch eine völlig neue Regierung bedeute nicht unbedingt eine Veränderung: „Vielleicht sind wir dann die allerextremsten los. Aber auch zur Opposition von heute gehören Parteien, die rechtsnational sind. Die sind nur in der Opposition, weil sie gegen Netanyahu persönlich sind. Möglicherweise bekommen wir dann eine Regierung, die noch immer rechtsnational ist – nur ohne Netanyahu und ohne Ben-Gvir.“

Erschienen in: APA/04-2023

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