Keine dauerhafte Truppenpräsenz in Gaza, sondern Frieden als “einzig sicheren Weg” für Israel: Das fordert Avner Gvaryahu, Direktor der israelischen NGO “Breaking the Silence”. Gvaryahu ist ehemaliger Soldat der israelischen Armee, genauso wie die anderen Mitglieder von “Breaking the Silence”. Die Organisation berichtet von Einsätzen in den besetzten Gebieten und überprüft und dokumentiert Zeugenaussagen von Armeeangehörigen über Missstände. Israelis arbeiten dabei mit Palästinenserinnen und Palästinensern zusammen.
In einer gemeinsamen Erklärung äußerte sich die NGO zu den “schrecklichen Verbrechen der Hamas gegen unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten” am 7. Oktober 2023: “Auch jetzt – besonders jetzt – müssen wir unsere moralische und menschliche Einstellung beibehalten und uns dem Drang, verzweifelt zu sein und nach Rache verweigern.”
“Der Hamas-Angriff zielte auf die Friedensbewegung, buchstäblich auf uns.Viele der getöteten und entführten Menschen waren aktive Mitglieder des Friedenslagers, kämpften gegen die Besatzung, hatten enge Beziehungen zu den Menschen im Gazastreifen”, sagt Gvaryahu im Interview mit der APA. Man fühle Wut und Angst, so Gvaryahu. “Aber ich denke, für meine Familie und meine Lieben ist der einzige sichere Weg Frieden. Unsere sichersten Grenzen sind mit jenen Ländern, mit denen wir Frieden haben.” Israel hat 1979 mit Ägypten und 1994 mit Jordanien Frieden geschlossen. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, dem Sudan und Marokko gibt es Verständigungen im Rahmen der Abraham-Deklaration. In diese müssen laut Vorstellung von Gvaryahu die Palästinenser eingebunden werden.
Wie könne eine Zukunft ohne Krieg gestaltet werden – über eine solche Frage denke die aktuelle israelische Regierung aber nicht nach, “einschließlich Gantz“, sagt Gvaryahu. Oppositionspolitiker Benjamin Gantz trat wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas in das Kriegskabinett von Premier Benjamin Netanyahu ein. “Die einzige wirkliche Möglichkeit, die Israelis im Süden und die Bewohnerinnen und Bewohner von Gaza zu schützen, besteht darin, einen Weg zu finden, die gemäßigten Kräfte in diesem Konflikt zu stärken”, sagt Gvaryahu.
“Die Regierung, die für den Mangel an Sicherheit für die Gemeinden im Süden verantwortlich ist, genauso wie für die Realität im Westjordanland und in Gaza – für die Stärkung der Hamas bei gleichzeitiger Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde – führt uns heute in diesem Krieg. Das ist sehr beängstigend”, sagt Gvaryahu. Man müsse zwischen Kämpfern, bewaffneten Gruppen, Terroristen und unschuldigen Zivilistinnen und Zivilisten unterscheiden.
Als Soldat war Gvaryahu im Westjordanland als Scharfschütze stationiert, in den Städten Nablus und Jenin. “Wir wurden beschossen, ich fürchtete um mein Leben, hatte Gefühle der Wut und der Rache – aber auch Verständnis: Die Häuser, in die wir eindrangen, waren die Häuser unschuldiger Zivilistinnen und Zivilisten. Die nächtlichen Razzien, die wir durchführten, betrafen Menschen, die nicht involviert waren”, berichtet Gvaryahu. “Und vielleicht, das ist ein beängstigender Gedanke, aber es ist etwas, worüber wir nachdenken müssen, haben einige unserer Aktionen Menschen dazu motiviert, später Israelis gegenüber gewalttätig zu sein. Ich glaube auch nicht, dass ich in den Häusern, in die ich in Nablus und Jenin eingedrungen bin, große Unterstützer Israels hinterlassen habe. Man stürmt mitten in der Nacht ein Haus, weckt alle auf, knallt das Familienoberhaupt blindlings ab. Ich glaube nicht, dass das eine gute Grundlage für Frieden ist.”
“Wie wir die Situation auch drehen und wenden, wie lange wir auch im Gazastreifen bleiben werden: Israelis sind hier, um zu bleiben und Palästinenser sind hier, um zu bleiben”, sagt Gvaryahu. “Es gibt fast gleich viele Israelis wie Palästinenser. Wenn man also glaubt, dass die Palästinenser verschwinden werden oder die israelischen Juden, dann ist das wie der Glaube an Hexerei. Die Realität ist, dass die Menschen hier sind.”
Österreich, Deutschland und der EU misst Gvaryahu eine bedeutende Rolle zu: Man verstehe, dass eine friedliche Lösung notwendig sei. “Wenn wir eine Dynamik zulassen, die nur darauf aufbaut, wer in der nächsten Runde mehr Punkte bekommt, glaube ich, dass das Einzige, das uns passieren wird, eine weitere Katastrophe ist. Und wir leben bereits in einer Katastrophe”, sagt Gvaryahu. “Man hatte das Gefühl, dass Israel eine Art Freibrief bekommen hat oder die Möglichkeit, im Gazastreifen zu tun, was es will. Es sollte aber eine Frage geben, die auf jedem Tisch von Washington bis Brüssel, von Ramallah bis Jerusalem liegt: ,Wohin gehen wir von hier aus?’ Wenn die Antwort lautet: Mehr vom Gleichen oder israelische Truppen, die im Gazastreifen bleiben, dann ist das definitiv nicht nur schlecht für Israelis und Palästinenser, sondern auch für die Welt.”
“Breaking the Silence“ wurde 2004 von einer Gruppe Soldatinnen und Soldaten gegründet, die in Hebron stationiert waren – jener palästinensischen Stadt im Westjordanland, in der sich im Zentrum eine israelische Siedlung befindet. Anliegen der NGO ist es, die “Gesellschaft über die Realität der Besatzung” zu informieren. Ziel sei es durch “eine sinnvolle öffentliche Debatte über den hohen moralischen Preis, den die israelische Gesellschaft für die Aufrechterhaltung des Besatzungsregimes zahlt, Widerstand gegen die Besatzung hervorzurufen”. Interessierte werden via Webseite, Social Media und geführter Touren in den besetzten Gebieten informiert. “Breaking the Silence” – auf Hebräisch “Shovrim Shtika” – wird angefeindet: Beschimpft von den einen als Vaterlandsverräter, kritisieren andere die anonymen Zeugenaussagen. Die Organisation erklärt die Anonymität mit der Furcht etlicher Israelis, als Feind wahrgenommen zu werden.
(Das Interview führte Christine Zeiner/APA)