Ein Jahr nach dem Tsunami: Den Betroffenen helfen – aber wie?

„Fotografiere Kinder“, bat die Hilfsorganisation Helmut Lukas, Professor für Sozialanthropologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, bevor er in die Tsunamiregion Aceh reiste.

Bilder von Kindern in Katastrophenregionen erregen Mitleid. Mitleid bringt Spenden. Die Hilfsorganisationen – meist NGOs – hatten nur kurz Zeit: Katastrophen, selbst jene im Ausmaß, wie sie der Tsunami brachte, verlieren rasch ihren Schrecken – zumindest bei jenen, die nicht unmittelbar betroffen sind. „In Aceh war wirklich alles zerstört“, sagt Lukas. „Wenn von einem Dorf, in dem 500 Menschen wohnten, nur 150 überleben, wird Hilfe gebraucht.“ Sofortmaßnahmen retteten tausende Leben. Spenden aus der ganzen Welt gab es reichlich. Allein die „Nachbar in Not“-Aktion brachte 32 Millionen Euro. Hilfe kam – doch auch solche, die niemand wollte.

Kurze Zeit nach der Katastrophe lagerten etwa auf Sri Lanka Winterjacken. Die Durchschnittstemperatur betrug dort 28 Grad. Das Land, das zu den größten Teeproduzenten gehört, erhielt – Tee. Manche schickten Klopapier für die Bewohner, die für diese Hygiene Wasser verwenden.

In Bukit Barisam, einer Gebirgsregion auf Westsumatra, wurden Wasseraufbereitungsanlagen aufgestellt. Die Gegend zählt zu jenen Regionen der Welt, wo es die meisten Niederschläge gibt. Am kostengünstigsten wäre es gewesen, auf den nächsten Regen zu warten. Doch Experten und die Bewohner wurden nicht gefragt.

Helfer müssten über die Kultur und Traditionen betroffener Gebiete Bescheid wissen, kritisiert Lukas die oft unüberlegten Taten mancher Institutionen und Organisationen.

Helfen um jeden Preis

Die Helfer wollten helfen – und die Preise stiegen: Ausländische Helfer bezahlten das Doppelte bis Zwanzigfache für Lebensmittel und Baumaterialien. Das wirkte sich auch auf die Preise für Einheimische aus.

Dutzende Hilfsorganisationen brachten ihre Spendengelder in die betroffenen Gebiete, und jede der NGOs kam mit anderen Zielen und Regeln. „Wer von sieben NGOs abgewiesen wurde, bekam von der achten Unterstützung“, sagt Christoph Weismayer, Soziologe und Sri-Lanka-Experte.

Aus dem einst ruhigen Fischerdorf Arugam Bay auf Sri Lanka ist ein aufstrebender Tourismusort geworden. Heute herrscht dort Neid und Misstrauen. „Man schaut, was der Nachbar bekommen hat, wie sein Haus heute aussieht“, berichtet Weismayer.

In einem Papier, das Professor Lukas für eine Hilfsorganisation erarbeitete, stellte er die Frage, ob jemand, der vor der Katastrophe kein Haus hatte, nun eine feste Bleibe bekommen soll. Und weiter: „Was unternehmen wir, wenn Besitzer großer Boote ihre Boote ersetzt bekommen, während den Besitzern kleiner Boote auch nur kleine Boote ersetzt werden?“

Der Fischer Noor Salin Hanees berichtete der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass es in seiner Region vor dem Tsunami 80 Boote gab. „Als wir hörten, die Ausländer bezahlen uns neue Schiffe, wurden 500 Anträge gestellt. Nun gibt es 160 Boote. Bald wird der Fisch in unserer Bucht knapp werden.“

Manche Hilfsorganisationen sind sich solcher Probleme bewusst. Oft werden aber in der Annahme, Gutes zu tun, lokale Gewohnheiten und Traditionen übergangen. „Es sollte hinterfragt werden, wer bestimmt, was mit dem Geld passiert: NGOs, Regierungen, Verwaltungsbeamte, Dorfälteste?“, meint Lukas.

Aufbau des Tourismus

„Die Regierung in Colombo hat in der Spendenflut vor allem die Chance gesehen, die Infrastruktur des Landes zu modernisieren und den Tourismussektor aufzubauen“, schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“. In Orten, die sich nicht für den Tourismus eignen, stehen noch immer Notunterkünfte. In den Tsunamiregionen lebt heute erst ein Fünftel der 1,8 Millionen Obdachlosen wieder in festen Häusern.

Dabei hat der Tourismus zum Ausmaß der Katastrophe beigetragen. Noch vor wenigen Jahren waren Korallenriffe und Mangrovenwälder in Südostasien natürliche Schutzwalle, die die Wucht von Flutwellen bremsten. Sie wichen unter anderem Shrimpsfarmen und Touristenstränden.

Tatsachen wie diese spielen beim Werben um Spenden kaum eine Rolle. Diesen Mangel an wirklicher Auseinandersetzung kritisiert der mexikanische Intellektuelle Gustavo Esteva. Katastrophen und Tragödien müssten in der Öffentlichkeit anders als durch Appelle ans Mitleid zum Thema gemacht werden.

 

Erschienen in: Wiener Zeitung. 12/2005

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