Nach der Lehman-Pleite: Die EU und die Krise

Heinz-Josef Bontrup ist aufgebracht. Er redet laut und energisch, es ist nicht zu überhören, wie ernst es dem Ökonomen ist: „Nach wie vor wird eine falsche Ursachenanalyse für die Krise geliefert“, sagt er. „Und in Conclusio werden dann Therapien vorgenommen, die nicht adäquat sind.“ Bontrup spricht in einem kleinen Raum im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin. Wenige Tage zuvor haben ein paar Meter weiter die fünf Wirtschaftsweisen der deutschen Regierung zur Wirtschafts- und Finanzkrise Stellung genommen. Im großen Saal, vor dutzenden Journalisten, verkündeten sie: Deutschland marschiert in die Rezession.

Dass es ernst steht um die deutsche Wirtschaft haben Bontrup und seine Kollegen schon vor Monaten gesagt. Der Wirtschaftsprofessor der Fachhochschule Gelsenkirchen ist Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sie erstellt Gegengutachten zu den Berichten der Wirtschaftsweisen. So auch jetzt, zu Zeiten des weltweiten wirtschaftlichen Katzenjammers. Und während das Gutachten „Die Finanzkrise meistern“ heißt, lässt das Gegengutachten „Finanz“ weg und titelt: „Krise unterschätzt“. Denn die Ursachen für den deutschen Einbruch machen die alternativen Ökonomen nicht in der Finanzkrise aus – das übrigens hatte auch schon Peer Steinbrück festgestellt: Auch ohne diese hätte man vor allem wegen hoher Energie- und Nahrungsmittelpreise nicht weiterhin die erhellende, schöne Wirtschaftsleistung wie in den vergangenen Jahren gehabt, so der Finanzminister. Doch schon hier hakt es, folgt man den alternativen Ökonomen: Denn ja, die deutsche Wirtschaft hat gemessen am Bruttoinlandsprodukt floriert, schön und erhellend ist sie deshalb aber noch lange nicht gewesen. Die Gruppe macht das an mehreren Statistiken fest: Sie hält dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Konsumzahlen entgegen. Während jenes gestützt vom Export zwischen 2004 und 2007 in die Höhe schoss, erreichten diese andere beinahe einen Stillstand. Die unteren Einkommensschichten haben zu wenig Geld, das sie ausgeben könnten, sagen Bontrup und seine Kollegen und verweisen auf eine falsche Lohnpolitik der vergangenen Jahre, auf die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, Scheinselbstständigkeit und Leiharbeiter, auf zu niedrige Arbeitslosengelder. „Jetzt bricht der Export auch noch weg, deshalb wird es im nächsten Jahr ganz schlecht ausschauen in Deutschland“, sagt Bontrup.

Wenn es schlecht aussieht für Deutschland, trifft das Europa – und Österreich. „Es trifft Große wie Kleine“, berichtet Walter Pöschl, Handelsdelegierter der Wirtschaftskammer in Berlin. Für deutsche Anlagen, die in die ganze Welt geliefert werden, kaufen Unternehmen vieles von österreichischen Anbietern zu. Besonders wirkt sich das auf die Automobilzulieferer aus: Von dem Exportvolumen von 34 Milliarden Euro nach Deutschland entfällt ein Drittel auf diese Branche. „Alles hängt an Deutschland“, sagt auch Leon Podkaminer vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) und meint die Wirtschaftslage der jüngsten EU-Mitglieder Bulgarien, Rumänien, Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien. Diese wiederum spielt eine wichtige Rolle für Österreich. Neben Industrieunternehmen sind es vor allem heimische Banken und Versicherungen, die im „Osten“ stark vertreten sind. „Das ist jetzt ein Moment von Unsicherheit“, sagt Podkaminer. „Alle zittern.“ Berechtigterweise? „Wenn alle zittern, kann das eine Panik auslösen. Selbsterfüllende Prophezeiung also.“ Das WIIW geht aber – mit Ausnahme von Ungarn – von Wachstum aus. „Das wird zwar langsamer, es aber sind immer noch schöne Zahlen“, erklärt Podkaminer. Um die drei Prozent Plus sollen es im nächsten Jahr werden – Grund genug, sich gelassen zu geben. Ruhig klingen denn auch Wortmeldungen vom Chef von Raiffeisen International, Herbert Stepic, und von OMV-Generaldirektor Wolfgang Ruttenstorfer. Und von der Erstebank heißt es: „Die Region wird der wahre Wachtumsmotor bleiben.“ Von einer Krise könne insgesamt für die neuen Mitglieder betrachtet keine Rede sein, meint Podkaminer, es sei aber normal, wenn man sich Sorgen machte.

Und die macht man sich. Die deutsche Regierung schade derzeit nicht nur Deutschland, sondern auch seinen Nachbarn, schreibt die Financial Times. Ihr Argument: Ohne ein „ernsthaftes“ und „umfassendes“ Konjunkturprogramm kauften die Deutschen zu wenig ein – und helfen damit weder der eigenen Wirtschaft noch den anderen Ländern drumherum. Von einem Konjunkturprogramm will die deutsche Regierung aber nichts wissen, das verbrenne bloß Geld, meint Finanzminister Steinbrück. Man einigte sich nach langem Hin- und Her schließlich auf ein „Konjunkturpaket“ – ein „mutiges, zielgerichtetes und nachhaltiges“, wie es Kanzlerin Angela Merkel nannte. 12 bis 13 Milliarden Euro an Steuergeldern für zwei Jahre werden es sein. Selbst der Sachverständigenrat der Regierung, die Wirtschaftsweisen, hält das für viel zu wenig und nennt das Paket ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen, kritisiert zu viel Aufwand für Autobauer und zu wenig für den Ausbau von Infrastruktur und Bildung. Für „putzig“ erklärte gar einer der Weisen das, was die Regierung für den Arbeitsmarkt vorsieht – vor allem im Vergleich zu dem milliardenschweren Bankenrettungspaket. „Die Pläne spotten jeder Beschreibung“, kommentiert Ökonom Bontrup die Maßnahmen. Es müsste mehr Geld in die Hand genommen werden, es fehle der Fokus auf Soziales und Ökologisches, „qualitatives Wachstum“ nennt die Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik das. Man müsse überhaupt in größeren Dimensionen denken, Zeiträume von rund zehn Jahren nennt Bontrup. „Es braucht ein langfristiges Konzept, sonst stehen wir übermorgen wieder da, wo wir jetzt sind.“

Doch die Kanzlerin ist zuückhaltend. Sie will keine Lokomotive sein, zumindest bescheinigen ihr das ihre Kritiker – im In- wie im Ausland, darunter die konservative Pariser Tageszeitung Le Figaro: Merkel sträube sich, für den Wirtschaftsaufschwung in Europa vorzupreschen, heißt es da. Ihr Außenminister – und SPD-Kanzlerkandidat – Frank-Walter Steinmeier hatte hingegen schon länger über ein EU-Paket laut nachgedacht. Mittlerweile sagt die Kanzlerin zwar, sie sei zuversichtlich, dass die EU gemeinsam vorgehen werde – zusätzliches Geld will man dafür aber nicht ausgeben. Konkretes steht ohnehin noch nicht fest, die Zahl 130 Milliarden Euro tauchte auf. Die EU-Kommission will die Mitgliedsstaaten offensichtlich auffordern, ein Prozent ihrer Wirtschaftsleistung bereitzustellen.

Kanzler Alfred Gusenbauer hatte ein gemeinsames europäisches Vorgehen längst gefordert, alles andere als Begeisterung war daraufhin unter anderem von Deutschland gekommen. Nun meint man auch dort, die einzelnen Länder sollten sich besser abstimmen. „Wir haben ja eine unterschiedliche Leistungsfähigkeit in den Staaten“, erläutert Mechthild Schrooten, Ökonomin an der Hochschule Bremen und ebenfalls Mitglied der Alternativen Arbeitsgruppe Wirtschaftspolitik. Würde etwa Zulieferbetrieben in dem einen Staat unter die Arme gegriffen, könnte das zum Schaden jener in anderen Ländern sein. Auch EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hat bereits vor einem Subventionswettlauf gewarnt. Ein EU-Paket sei in jedem Fall begrüßenswert, urteilt Schrooten. „Das ist ein Signal: Wir machen etwas gemeinsam“, sagt sie. In Europa hat bisher allerdings trotz EU das Interesse der Einzelstaaten dominiert, jedes Land schnürt sein eigenes Maßnahmenbündel – in Österreich soll beispielsweise ein weiteres Paket für 2009 und 2010 im Umfang von 1,9 Milliarden Euro folgen.

Schrooten aber geht das Engagement Europas insgesamt nicht weit genug. Im Gegensatz zu Bontrup bislang ruhiger, dreht sie nun doch ein wenig auf: Es gehe bei der Diskussion schließlich nicht um ein Unterhaltungsprogramm, sagt sie. „Wir sind am Vorabend einer Weltwirtschaftskrise.“

Erschienen in: Falter

Datum: 11/2008

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