Es ist immer wieder überwältigend, auf Tempelhof zu schauen: Eine riesige freie Fläche liegt vor einem, weckt das Bedürfnis draufloszurennen – in die Wiese, auf die Startbahn, zum alten Flughafengebäude. Dutzende Jogger, Rollschuh-, Skateboard- und Fahrradfahrer tun das bereits. Es wird gepicknickt, gelesen und getratscht.
Bis zum Herbst 2008 sind in Berlin-Tempelhof Flugzeuge gestartet und gelandet. Dann wurde der Flughafen – berühmt vor allem wegen der Berliner Luftbrücke 1948 und 1949 – geschlossen. Seit zwei Jahren kann man hier auf knapp 400 Hektar seine Freizeit verbringen. Der Eintritt ist frei. Auf diesem ausladenden Gelände realisiert zurzeit der umjubelte Intendant Matthias Lilienthal eines seiner gigantischen Abschiedsprojekte. Lilienthal verlässt nach neun Jahren das Berliner Avantgarde-Theater „Hebbel am Ufer/HAU“ mit einer 24-Stunden-Performance des 1500 Seiten langen Romans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace und einer „Großen Weltausstellung 2012“ mit dem Untertitel: „The World is not Fair“ auf dem Tempelhofer Flugfeld.
Das HAU sei eben auch immer „ein Haus der extremen Überforderung“ gewesen, das habe er vom Volksbühne-Intendanten Frank Castorf gelernt, sagte Lilienthal kürzlich in der „taz“.
Berlin: Stadt im Umbruch
Die „Große Weltausstellung“ präsentiert Berlin ein weiteres Mal als einen Ort der Künstler, offen für Schräges, Neues, Unerwartetes – oft im Rahmen von Zwischennutzungen: Im früheren DDR-Parlament „Palast der Republik“ – mittlerweile abgerissen – wurden ab 2004 Ausstellungen und Konzerte veranstaltet. Das alte Postfuhramt – ebenfalls einst Ostberlin – beherbergt seit 2006 das Fotografieforum „C/O Berlin“. Demnächst wird das Gebäude in ein Hotel umgewandelt. Auch in Tempelhof soll das Provisorische weniger werden. Spiel- und Freizeitplätze sind genau geplant, ebenso wie Wohnungen und Schulen. Als „die große innerstädtische Fläche im Umbruch“ bezeichnet Benjamin Foerster-Baldenius das Areal. Gemeinsam mit dem HAU konzipierte er als Mitglied des Architekturkollektivs „Raumlabor“ nun die „Große Weltausstellung“.
Große Spielwiese
15 Pavillons stehen auf dem Gelände, so verstreut, dass die Wege zu Fuß ganz schön viel Zeit in Anspruch nehmen. Besser, man kommt mit dem Fahrrad, doch selbst dann sind die Strecken noch lang. Die Anordnung der Pavillons passt freilich zum Tempelhof: eine große Spielwiese, die viel Raum zum Nachdenken bietet. In seinem „Pavillon der Weltausstellungen“ hat sich der Künstler Erik Göngrich auf einer 40 Quadratmeter großen Zeichnung mit dem Thema Expo und Stadtentwicklung auseinandergesetzt: Die Bewohner des jeweiligen Gastgeberortes und deren Bedürfnisse spielen dabei meist kaum oder gar keine Rolle. Fortschritt, Leistung und Prestige stehen im Vordergrund.
Auf Lilienthals „Großer Weltausstellung 2012“ geht es hingegen überhaupt nicht darum, einander zu übertrumpfen. Die Pavillons sind alles andere als Pracht- oder Prestigebauten. Die meisten sehen wie flott zusammengezimmerte Hütten aus.
Vor dem „Quartier 52.4697°N 13396°“ der Filmemacherin Branka Prlić und des Schauspielers und Regisseurs Tamer Yigit steht außerdem ein Riesenrad aus Holz. Die Welt – eine Show. Doch das Riesenrad kann sich nicht drehen. Prlić und Yigit haben damit vielmehr eine Art Versammlungsstätte für Menschen ohne festen Wohnsitz geschaffen. Thematisiert werden Armutswanderungen, besonders von Sinti und Roma: „The World is not Fair“ – hier gilt die Doppelbedeutung. Die Welt ist keine Messe und sie ist auch nicht gerecht. Die „Große Weltausstellung“ bedient nicht wie üblich die Technik-Begeisterung, sondern setzt sich mit Themen wie Armut, Katastrophen und Tod auseinander.
„Konnichiwa“ tönen glockenhelle Stimmen; durch den Pavillon des japanischen Regisseurs Toshiki Okada schallt das offizielle Lied der Expo 1970 in Osaka. „Guten Tag, Welt!“ Die zwei Schauspieler Taichi Yamagata und Tomomitsu Adachi führen dazu einen bizarren Tanz auf, dabei tragen sie Schutzkleidung, als würden sie sich in einem der Reaktorblöcke von Fukushima befinden. Mit ihren Gummistiefeln schöpfen die zwei Kühlwasser und erklären: Zeitgleich zur Expo-Eröffnung mit dem fröhlichen Liedchen wurde das erste Atomkraftwerk Japans in Betrieb genommen – die „Energie der Zukunft“ begleitete somit den gezeigten Fortschritt in Osaka.
Im Hintergrund der Performance sieht der Zuschauer die bogenförmige, 1200 Meter lange monumentale, von den Nazis errichtete Flughafenhalle. Links und rechts des fingierten Reaktors sind die Besucher in Bewegung. Sie radeln, flanieren oder lassen Drachen steigen.