„Wir umarmen Olivenbäume“

Die israelische Sperranlage nahm den Menschen von Bil’in viel Land weg. Einen Teil erhielten sie nach jahrelangen Protesten zurück. Das Rezept: Ausdauer und keine Gewalt

 

„Was für ein Idiot!“ Was manche über ihn dachten, darüber hat Abdallah Abu Rahma keine Zweifel. Seit dreizehn Jahren demonstriert der Lehrer gemeinsam mit den anderen Bewohnern des palästinensischen Dorfes Bil’in friedlich gegen die israelische Besatzung. Woche für Woche, Freitag für Freitag nach dem Salāt al-dschuma, dem Gebet. Sie gehen bis heute auf die Straße – ein gewaltfreier Protest trotz bewaffneter Soldaten. „Wir haben bewiesen, dass es funktioniert“, sagt Abu Rahma.

Von Ramallah aus erreicht man Bil’in im Westjordanland in nicht ganz zwanzig Minuten mit dem Auto. Fünf Minuten vom Dorf entfernt befindet sich die israelische Sperranlage, die Mauer. Hinter der Mauer liegt die mittlerweile größte jüdische Siedlung im Westjordanland. 70.000 Menschen leben hier heute.

Abu Rahma bleibt ein paar Meter vor der Mauer stehen. Die Sonne knallt herunter. Olivenbäume gibt es wenige. „Hier ist exakt die Mitte zwischen Jerusalem und Tel Aviv“, sagt er. „Beide Städte liegen genau 26 Kilometer entfernt.“ Jerusalem und Tel Aviv sind also schnell zu erreichen und das Leben hier ist deutlich billiger als dort: Ein attraktiver Ort für manche Israelis. Die Mauer schlängelt sich durch die Landschaft, soweit man sehen kann.

 

„Sie haben unser Land genommen und nicht dafür bezahlt“, sagt Abu Rahma. In der Hand hält er verschiedene Patronenhülsen, die er auf dem Weg aufgehoben hat und nun beschreibt. Ganz genau erläutert er, wie welche Munition funktioniert, was die jeweilige Art anrichten kann. Alle paar Meter findet man sie hier in der Landschaft an der Mauer entlang. Abu Rahmas Freund Bassem wurde von einem dieser Geschosse getötet. „100 Stück in der Minute. Es war alles voller Tränengas.“ Zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen von Bil’in mehr als vier Jahre lang ohne Unterbrechung demonstriert.

Mit Landvermessungen von Israelis hatte alles begonnen: Eine Siedlung sollte entstehen. Im Dokumentarfilm „Five broken cameras“ kann man den Beginn der Bauarbeiten und der Proteste sehen. Bagger heben Olivenbäume aus, der Boden wird planiert. Israelische Soldaten schießen. „Das ist unser Land“, rufen die Menschen. „Jeder weiß, dass das unser Land ist, ihr habt es uns gestohlen. Das hier ist ein kleines Dorf. Habt ihr kein Herz, keine Familie?“ Der Großteil der Dorfbewohner lebt von den landwirtschaftlichen Erträgen. Feste Jobs, regelmäßige Einkommen haben wenige.

Zuerst Container, dann Häuser
Von Anfang an habe man sich im Dorf darauf verständigt, friedlich zu bleiben, sagt Abu Rahma. „Wir umarmen Olivenbäume.“ Die Proteste bewirken zunächst, dass die Menschen von Bil’in durch ein Tor des Grenzzaunes auf ihr Land kommen können, streng bewacht von israelischen Soldaten. Die Demonstrationen sind damit nicht zu Ende. Die Dorfbewohner wollen verhindern, dass Container aufgestellt werden. Die Menschen wissen: Sind erst einmal Container auf dem Land, werden bald feste Siedlungen entstehen. An diesem Ablauf hat sich nichts geändert. Fährt man heute durch das Westjordanland, kann man immer wieder diese Vorboten neuer Siedlungen sehen.

Die Container bei Bil’in wurden geliefert. Die Menschen protestierten weiter. Und die Lage spitzte sich zu. Immer öfter kamen nun israelische Soldaten auch direkt ins Dorf, weckten Familien und verhafteten Männer. Auch Abu Rahma wurde mehrmals festgenommen.

Wir spazieren die Mauer entlang. Stacheldraht liegt davor. Nach einigen Metern sehen wir israelische Soldaten auf ihrem Wachposten und ein Tor. „Als die Mauer gebaut wurde, sagte sie uns: Wir machen ein Tor, damit sich die Bauern weiterhin um ihr Land kümmern und ernten können. Das stimmt nicht. Dieses Tor ist für das Militär, nicht für unsere Bauern“, sagt Abu Rahma. „Einmal im Jahr erlauben sie uns, unsere Oliven zu ernten. Aber das ganze Jahr hindurch können wir nichts tun, wir können das Land und die Bäume nicht pflegen.“ Manchmal versuche er, das Tor zu öffnen.

Abu Rahma spricht langsam und ruhig. Auch an anderen Orten im Westjordanland nimmt keiner der Gesprächspartner das Wort „Hass“ in den Mund. Die meisten berichten unaufgeregt von den Problemen – der Seifenproduzent in Nablus etwa, der seine Ware nicht mehr exportieren kann. Zu hoch seien die Auflagen aus Israel, als dass sich dies lohnen würde, sagt der junge Mann. Und am Ende wisse man nicht, ob man überhaupt alle nötigen Dokumente erhalte. Einst konkurrierten Aleppo und Nablus um Käufer der Olivenölseifen. „Wenn Sie heute unsere Seife wollen, müssen Sie direkt nach Nablus kommen.“

Seifenfabrik in Nablus

Salziges Wasser und kein Strom
Oder Moayyad Bsharat, der Vertreter der Bauernorganisation aus dem kleinen Ort Jflik im Jordantal: Während israelische Siedler bis zu 600 Meter tief graben dürften, sei es den Palästinensern nur bis zu maximal 120 Metern erlaubt – zu wenig, um frisches Wasser zu bekommen. „Das Wasser ist salzig.“ Der kleine Ort versucht sein Glück nun im Dattelanbau, denn anders als Tomaten oder Gurken kommen Palmen mit Salzwasser zurecht. „Im vergangenen August haben die Israelis aber den Strom unserer Lagerhalle abgeschaltet. Bei 45, 50 Grad brauchten wir die Kühlung. Nach zehn Tagen waren die Datteln kaputt.“ Gekappt wurde die Elektrizitätszufuhr, weil die Dorfbewohner den Strom illegal nutzen. „Wir bekommen allerdings auch keine Lizenz. Denn die Israelis wollen uns aus dem Jordantal vertreiben.“

Moayyad Bsharat

Es ist hier im Jordantal leicht zu erkennen, wer wo wohnt. Die grünen Flecken in Mitten der kargen Landschaft gehören den Siedlern. Im gesamten Westjordanland verweisen die schwarzen Wassertanks auf den Dächern auf palästinensische Bewohner: „Israel gibt uns ein Sechstel des Wassers, das wir bräuchten und das auch nur an einem Tag in der Woche“, berichtet der Unternehmer Majdi Hadid. „Es existiert ein vielschichtiges System, um die Palästinenser möglichst zu blockieren, es gibt Straßensperren, Checkpoints, Zäune, Mauern. Handel zu betreiben, ist schwer. Das Westjordanland soll so stark wie möglich für Palästinenser zergliedert werden.“

Fleckerlteppich Westjordanland
Tatsächlich gleichen die palästinensischen Orte im Westjordanland auf der Karte einem Fleckerlteppich. 1967 hatte Israel das Westjordanland besetzt. Im September 1995 unterzeichneten der damalige israelische Ministerpräsident, Jitzchak Rabin, und der damalige Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, das „Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen“ – „Oslo II“. Seither gelten – trotz „Übergang“ – drei Zonen: A, B und C. Zone A steht unter der palästinensischen Verwaltung und macht etwa drei Prozent des Westjordanlandes aus. Ramallah, Nablus, Betlehem und Jericho gehören dazu. Zur Zone B – etwa 27 Prozent – zählen ländliche Gebiete, die unter palästinensischer Zivil- und israelischer Militärverwaltung stehen. Die Zone C – 70 Prozent des Westjordanlandes – wird von den israelischen Behörden kontrolliert.

Abu Rahma sieht auf die Olivenbäume rechts, zu denen er nun nicht mehr kommt, und auf die Siedlung dahinter. „Das Problem ist die Besatzung“, sagt er. „Es wird versucht, den Konflikt als religiöses Problem darzustellen, aber das stimmt nicht. Wir arbeiten gut mit Christen und Juden zusammen.“

Seit 2005 vertritt der israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard mit einer handvoll Kollegen die Menschen von Bil’in. Anfang September 2007 errangen sie einen Teilerfolg: Der Oberste israelische Gerichtshof ordnete an, die Mauer zu versetzen. Die israelische Regierung darf zwar aus „Sicherheitsgründen“ eine Sperranlage errichten – der Zweck der Mauer auf dem Land von Bil’in aber lag im Siedlungsbau; die Palästinenser seien übermäßig hart davon getroffen. Etwa ein Drittel des Landes sollte an die Menschen zurückgehen.

„Erst sechseinhalb Jahre nach dem Bau wurde die Mauer schließlich wirklich abgetragen“, sagt Abu Rahma. „Die neue steht aber auch auf unserem Land.“

In Bil’in wird weiter demonstriert. Andere übernahmen mittlerweile die friedliche Herangehensweise. „Damit haben wir begonnen“, sagt Abu Rahma stolz. „Und wer weiß. Vielleicht, eines Tages, gibt es keine Besatzung mehr – weder in Palästina, noch sonst wo.“

Erschienen in: Wiener Zeitung/Mai 2018

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