Weg vom BIP: Grüne im Norden wollen Fortschritt neu messen

 Alte Häuser, teilweise aus dem 17. Jahrhundert, eine Uferpromenade mit ehemaligem Salzspeicher, im Wasser schaukelnde Boote, das ist Glückstadt in Schleswig-Holstein. 12.000 Einwohner hat die Stadt in Norddeutschland, in 40 Minuten ist man mit dem Zug in Hamburg.

Doch die Idylle täuscht. Glückstadt ist strukturschwach, hat kaum industrielle Produktion, keine besonderen Wachstumszahlen, keinen Autobahnanschluss. Im Sommer kommen Tagestouristen, viele Glückstädter pendeln zur Arbeit nach Hamburg. Während in Deutschland von 1999 bis 2008 das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt um 7,4 Prozent zulegte, stieg es in Schleswig-Holstein nur um 0,2 Prozent. Das klingt nicht gut, und die klassische Frage lautet: Wie geht es weiter?

Doch Robert Habeck, Klubchef der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein, stellt eine andere Frage: Geht es Schleswig-Holstein wirklich besser, wenn sein Bruttoinlandsprodukt um zwei, drei oder vier Prozentpunkte wächst? Könnte Glückstadt nicht ein Beispiel dafür sein, dass herkömmliche Berechnungsmethoden für Produktivität überholt sind?

1972 veröffentlichte der US-Ökonom Dennis L. Meadows den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“. Nehmen Weltbevölkerung, Nahrungs- und Gebrauchsgüterproduktion, Umweltverschmutzung wie bisher zu, wären die Rohstoffvorräte in den kommenden 100 Jahren aufgebraucht. 1990 erstellte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen den „Human Development Index“, der Lebenserwartung, Bildungsgrad und das Pro-Kopf-Einkommen berücksichtig, und in der EU-Kommission und im EU-Parlament gibt es die Initiative „Mehr als BIP“.

Denn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst allein den Wert der im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen in einem bestimmten Zeitraum. Es sagt nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen die Waren hergestellt werden, wer sie kauft und welche Folgen Produktion und Verbrauch haben. „Die Art, wie Fortschritt bemessen wird, bedingt die Wirtschaftspolitik“, sagt Habeck. Derzeit steigern etwa „Reparaturarbeiten“ das BIP: Häuser werden saniert, weil sie der saure Regen zerfressen hat. Lärmschutzwände werden aufgestellt, weil laute Autobahnen gebaut wurden. Das bringe zwar Arbeit, Nachhaltigkeit sehe aber anders aus.

Die Landesfraktion der Grünen in Schleswig-Holstein beauftragte deshalb Ökonomen, eine Alternative zum BIP zu erstellen und für ihr Bundesland durchzurechnen. Heraus kam ein „regionaler Wohlfahrtsindex“, der erstmals ebenso die Einkommensverteilung berücksichtigt wie Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung, volkswirtschaftliche Kosten von Verkehrsunfällen, öffentliche Ausgaben für Gesundheit und Bildung und CO2-Emissionen.

Das Ergebnis überrascht, plötzlich stand das angeblich strukturschwache Land weit besser da. Im untersuchten Zeitraum von 1999 bis 2008 stieg der Wohlfahrtsindex in Schleswig-Holstein um 9,4 Prozent – deutschlandweit hingegen fiel er um 3,2 Prozent. Warum? Schleswig-Holstein setzt vergleichsweise stark auf erneuerbare Energie. Auch gibt es wenige sehr Reiche und wenige sehr Arme, die Einkommensunterschiede sind im Vergleich zu anderen Bundesländern nicht so krass.

Für die FDP, die in Schleswig-Holstein mit der CDU die Regierung bildet, ist der grüne Index eine Ausrede für „wirtschaftsfeindliche Politik“. Das Bruttoinlandsprodukt sei ein „wesentlich objektiverer Maßstab“ für die Konjunktur. Tatsächlich ist die Frage, welche Indikatoren man für die Berechnung heranzieht, nicht einfach zu beantworten. „Vor 30 Jahren hat man uns wegen der Windräder belächelt, heute schalten wir die Atomkraftwerke ab“, bedenkt Habeck.

Am Beispiel Glückstadt könnte alternatives Fortschrittsdenken heißen: Es braucht nicht unbedingt einen Autobahnanschluss, um Wachstum zu generieren. Vielleicht ist das Geld besser in Fördermaßnahmen für mittelständische Unternehmen investiert, dwie Speichertechnologien für Solar- und Windkraft entwickeln.

Erschienen in: Falter. 06/2011

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