Willkommen im WarTok

Am Valentinstag war noch alles in Ordnung. Die 20-jährige Valeria Shashenok posiert im kurzen Spaghettiträgershirt auf Madeira. Mehr als 3000 Likes bekommt sie dafür auf TikTok. Nur wenige Tage später nutzt die Ukrainerin die Plattform, um die Welt in den Bunker mitzunehmen, ihr die zerbombten Häuser zu zeigen und schließlich die Flucht. Mit coolem, ironisch-amüsiertem Gesichtsausdruck und unterlegt mit dem TikTok-Song “Celebrate the good times” sehen wir Valerisssh, wie sie sich hier nennt, später auf der Flucht nach Polen und Deutschland.

Andere junge Leute würden sich so auf ihren Urlaubstrips oder Erasmusaufenthalten präsentieren. Die Clips sind verstörend, weil sie sarkastisch sind und Vertrautheit schaffen mit dem Krieg und seinen Auswirkungen. Anstatt purer Bilder oder – wie man es von Hilfsorganisationen kennt – die Videos mit schwerer Musik zu unterlegen, zeigen junge Menschen wie Valeria Shashenok den Horror locker-flockig. Mit einer klaren Botschaft: Der Krieg muss aufhören. Valerisssh erreicht nun Millionen Menschen. Auch CNN berichtete über die junge Frau im Krieg.

TikTok war mal reiner Zeitvertreib. Nun wird die Plattform immer bedeutender. Im Krieg in der Ukraine spielt TikTok eine große Rolle. Menschen teilen, was sie erleben. Wir sehen, was vor ihren Augen passiert. Andere streuen Desinformation und Fake News. Und es gibt weltweit Userinnen und User, die Erklärvideos machen – mehr oder weniger fundiert, mitunter hanebüchen.

Guardian und CNN sprechen vom “TikTok-Krieg” und das Magazin der New York Times hat das Wort “WarTok” erfunden. „Dies ist der erste Krieg, über den super-ermächtigte Individuen auf TikTok berichten, bewaffnet nur mit Smartphones“, schrieb Thomas Friedman von der New York Times. Das Magazin The Atlantic ist kritischer und zitiert den Politologen Scott Althaus, der jahrzehntelang Daten zur öffentlichen Meinung über US-amerikanische Kriege untersucht hat. Althaus sagt demnach, er sei ei skeptisch gegenüber Behauptungen, dass die bloße Existenz eines neuen Medienformats große oder messbare Auswirkungen habe.

Was steckt nun hinter der Plattform? Und welchen Einfluss hat sie?

TikTok gibt es seit 2017, von Beginn an begleitet von Kritik zu fehlendem Daten- und Jugendschutz und zu Zensur. Die Video-Plattform ist die internationale Ausgabe der chinesischen App Douyin. Beider Mutterfirma: das 2012 in China gegründete Unternehmen ByteDance. 2016 hatte ByteDance das Video-Netzwerk Douyin entwickelt. ByteDance wollte mit dem Netzwerk aber nicht nur auf dem chinesischen Markt Erfolg haben. So entstand TikTok. Zusätzlich kaufte ByteDance seine chinesische Konkurrenz musical.ly. Diese international beliebte Lippensynchronisations- und Tanz-App war 2014 gegründet worden mit Firmensitz in Shanghai und Los Angeles. Musical.ly hatte den US-amerikanischen Markt im Blick. ByteDance war die App laut Wall Street Journal etwa eine Milliarde US-Dollar wert. Musical.ly verschwand und wurde Teil von TikTok. Zunächst konnte man auf TikTok Clips mit einer Dauer von 15 oder 60 Sekunden veröffentlichen. Mittlerweile sind auch drei Minuten möglich. Die Clips werden in Endlosschleife gezeigt.

Für den Guardian steht fest, dass TikTok das neue Facebook ist. TikTok wird demnach zu einem Portal zum Rest des Internets: Mit unserem Facebook-Konto könnten wir uns derzeit bei Spotify, Tinder und Hunderten von anderen Apps und Websites anmelden. Bald werde das alles auch mit TikTok möglich sein.

Und auch wenn der Konzern Meta mit Facebook, Instagram und Whatsapp noch mehr Umsatz macht – knapp 118 Mrd. US-Dollar waren es 2021: TikTok ist eine Goldgrube, die wächst. Die Nachrichtenagentur Reuters spricht von 58 Mrd. US-Dollar Umsatz im vergangenen Jahr. In Österreich nutzt TikTok laut dem deutschen Online-Statistikportal Statista schon jede/r zweite 11- bis 17-Jährige/r.

Zu ihnen zählt die 15-Jährige Wiener Schülerin Charlotte. “Im ersten Lockdown war mir fad. Und TikTok haben alle. Gewisse Insider versteht man nur, wenn man TikTok hat”, sagt sie. Charlotte und ihre 16-jährige Freundin Helene berichten etwa von Clips, die unter “Karen” laufen. Der Name steht sinnbildlich für das gezeigte Verhalten weißer Mittelschichtsfrauen, das daneben ist oder als nervig empfunden wird.

“Auch viele Wörter kommen von TikTok, also Slang. Ein paar Leute verwenden etwas und plötzlich wird das viral”, sagt Helene. Sie selbst hat keinen TikTok-Account, hauptsächlich, weil der Speicherplatz auf dem Handy fehle. Aber auch, weil Helene weiß, dass der Anbieter ein chinesisches Unternehmen ist. Deshalb wolle sie “etwas vorsichtiger” sein. Das heißt nicht, dass sich Helene nicht mit TikTok auskennt.“Es gibt auch viel Lehrreiches auf TikTok”, sagt sie. “In ganz wenig Zeit” würden Dinge erklärt. “Oder es gibt eben viele witzige Clips.”

Auch Charlotte schaut sich neben “irgendwelchen depperten Videos” Erklärvideos an, gern zu geschichtlichen Themen. “Es kommen immer neue Videos. TikTok denkt sozusagen für mich, was mir gefallen könnte, das ist der Algorithmus”, sagt sie. Wer hinter den Clips stecke, wisse sie selten. “Ich vertraue ihnen meist. Aber es gibt ja auch zum Beispiel die ZiB auf TikTok, so etwas ist mit Sicherheit vertrauenswürdig.” Auf jeden Fall sei TikTok “extrem süchtig machend”.

Und TikTok breitet sich aus. Etliche Clips werden in anderen Sozialen Medien wie Twitter geteilt. Die Social-Media-Expertin Laura Waßermann verweist weiters auf “Sounds, die in Tausenden von Videos benutzt und dadurch zu Chart-Erfolgen werden. Menschen, die nicht auf TikTok unterwegs sind, hören im Radio dann genau diese Songs.” Oder: “Creatorinnen” wie Avalino räumen laut Waßermann auf TikTok mit traditionellen Rollenbildern auf. Die Dachdeckerin Chiara zeige, wie es sei, als Frau in einem Handwerksberuf zu arbeiten. “Eine 16-, 17-Jährige traut sich doch viel eher, Dachdeckerin zu werden, wenn sie ein Vorbild auf Social Media hat”, sagt Waßermann. “Wenn ich an den Fachkräftemangel und fehlende Auszubildende denke, ist das ein Geschenk für jede Branche.”

Und: Immer mehr Politikerinnen und Politiker wollen via TikTok junge Menschen auf sich aufmerksam machen. Man versucht originell und lustig zu sein, denn TikTok war ursprünglich ja ausschließlich mehr oder weniger gute Unterhaltung in Form von kürzesten Videos. Waßermann findet es “extrem schlau”, sich als Politiker*in auf TikTok zu präsentieren. Denn: “Die Zielgruppe besteht aus Menschen, die sich höchst wahrscheinlich keine TV-Interviews angucken, geschweige denn am Parteistand der Ortsgemeinde stehen bleiben.”

“Über TikTok finden jungen Menschen in die Politik – und zwar viel mehr als über den Staatsbürgerkundeunterricht oder den Familientisch”, sagt Ioana Literat, Professorin für Kommunikation und Medien an der Columbia University, zum Falter. Hier würden die Jungen lernen, wie sie ihre Ansichten zum Ausdruck bringen und sich an politischen Debatten beteiligen könnten.

In Deutschland rockt die Plattform der Jungen ein Alter: Wolfgang Heubisch ist ein TikTok-Star. Der 75-Jährige sitzt für die FDP im Bayerischen Landtag. Er hat ganz offensichtlich ein fittes Social-Media-Team und seinerseits Spaß daran, die kurzen Clips zu drehen, die Tausende toll finden. Eines der Videos läuft unter dem Titel “Wenn sie sagt, dass sie AfD wählt…” Heubisch dreht sich gespielt panisch zwei Mal um und rennt dann zur Tür. Unter dem Clip ist zu lesen: “Schnell weg! #say no #noafd #ciao.” Elf Sekunden lang dauert das Ding. Es ist mit dem Stück “Nobody” der japanischen Sängerin Mitski unterlegt. Und es ist lustig.

Ganz anders einer der jüngsten Neuzugänge auf TikTok in Österreich. Die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat nun auch einen TikTok-Account. Einer der ersten Clips: “Wie startet dein Büro-Alltag?” Mikl-Leitner sagt: “Mit einer Menge Arbeit für Niederösterreich, but coffee first.” Wie von Zauberhand füllt sich das Glas. Es bleibt ein gewollt witziges Video. Nächster Clip, es geht um Pflegepläne. Im Hintergrund schnarchige Klaviermusik, das Gesprochene ist schlecht zu verstehen.

Politische Diskussionen fänden auf der Plattform durchaus statt – “nur eben weitgehend ohne Politiker”, war vor knapp einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Dem widerspricht Waßermann: Gerade Politiker wie der Liberale Heubisch in Bayern, der mehr als 100.000 Abonnentinnen und Abonnenten hat, hätten “jederzeit die Möglichkeit, auf politische Themen zu reagieren und somit Teil der Debatte zu werden.” Für Waßermann ist TikTok zweifellos auch politisch: “Im Juni 2020 war der Hashtag #BlackLivesMatter der Top-Hashtag. Die Videos zur Bewegung wurden Milliarden Male angeguckt.”

Im Krieg in der Ukraine wird TikTok für unterschiedliche politische Anliegen genutzt. Außerordentlich verbreitete sich Mitte Februar das Video der jungen US-Amerikanerin A.B. Burns-Tucker. Für jemanden, der oder die nicht Englisch als Muttersprache hat, ist der Clip kaum zu verstehen. Burns-Tucker spricht unfassbar schnell über Russland und die Ukraine, benutzt viel Slang und verweist innerhalb kürzester Zeit auf eine Menge US-innenpolitischer Themen. A.B. Burns-Tucker – auf TikTok heißt sie “Iamlegallyhype” – bezeichnet sich als “Jus-Studentin auf einer Mission”. Sie wolle mit ihren Clips möglichst viele Menschen ihrer Community erreichen, ihnen zeigen, dass sie politisch etwas bewegen können, sie dazu bringen, wählen zu gehen, sie aufklären, sagte sie dem US-TV-Nachrichtensender Black-News-Channel. Moderatorin und Moderator sind begeistert: A.B.Burns-Tucker wende sich an ein Publikum, das “möglicherweise niemals auch nur eine Ahnung davon gehabt hätte, was in der Ukraine los ist”.

Organisationen wie das Non-Profit-Unternehmen “Centre for Information Resilience” (CIR) verwenden TikTok völlig anders. Das CIR sammelt über die Plattform Informationen und Beweise, indem sie hochgeladene Videos nach ihrem Wahrheitsgehalt untersucht. Seit Wochen prüft und kartiert das CIR TikTok-Videos, die Truppenbewegungen, Feuerstellungen und Bombardierungen zeigen und vergleicht diese mit Satellitenbildern und anderen offiziellen Daten. “Der Kreml ist bekannt dafür, dass er Informationen als Waffe einsetzt und verzerrt”, sagt Ross Burley, Mitbegründer von CIR, das seinen Sitz London hat.

Damit laufend für ihre Zwecke passende Videos über die Ukraine angezeigt werden und das CIR an möglichst viele relevante Clips kommt, wird der Algorithmus “trainiert”. Etliche neue TikTok-Konten wurden dafür eingerichtet. Denn TikTok empfiehlt Videos, die dem ähneln, was die Nutzer bereits gesehen oder geliked haben oder dem sie folgen. Das Ergebnis der Überprüfungen ist auf der CIR-Webseite kostenlos zu sehen: Auf einer Monitoring-Karte können mehrere Felder angeklickt werden wie “Zivilopfer”, “ukrainische militärische Verluste”, “russische militärische Verluste” oder “Zerstörung ziviler Infrastruktur”. Via TikTok-Clips wird so ein zeithistorisches Dokument über den Krieg erstellt.

Sehr oft aber bahnt sich TikTok seinen Weg ungefiltert in die reale Welt. Wie lässt sich etwas als einzelne Person überprüfen, bevor die Videos zur Meinungsbildung beitragen?

Darauf hat Marcus Bösch Antworten. Er forscht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg zu Desinformation auf TikTok und veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter http://understanding-tiktok.com/. “Bei Videos, die einem vorgeschlagen werden, immer auf den Account klicken und auf die Zeitmarke achten”, sagt Bösch. “Wenn das Video älter ist als eine Woche und angebliche Kriegsbilder zeigt, sind das keine Aufnahmen aus dem aktuellen Kriegsgeschehen.” Er rät außerdem dazu, immer auf den Sound zu klicken. Dort werde angezeigt, ob es sich um den Originalton handle oder nicht. Und: “Einen Blick in die Kommentarspalte werfen. Häufig machen User*innen darauf aufmerksam, wenn sie das Video als Fake ausgemacht haben.” Möglich sei außerdem, ein Konto aufzusetzen und mit diesem “ausschließlich vermeintlich seriösen Accounts“ zu folgen.

Fest steht für Bösch: “Auf TikTok herrscht eine Propagandaschlacht.” Durch die “sehr niedrigschwellige und komplett auf Videos fokussierte App hat TikTok den Kampf um die Bilder noch einmal dramatisch beschleunigt.”

Inwieweit aber bestimmte Bilder oder Informationen die Reaktion des Durchschnittsmenschen auf die Geschehnisse beeinflussen, sei eine “sehr komplizierte Frage”, sagt Politologe Althaus in The Atlantic. Jedem neuen Medienformat werde zudem nachgesagt, dass es unmittelbarer, eindringlicher und bewegender sei als das vorherige.

Menge, Schnelligkeit und die unterschiedliche Weise, auf die TikTok genutzt wird, sind jedenfalls bemerkenswert. Und für etliche, die die Clips machen, bietet die Plattform eine Möglichkeit, mit dem Krieg in ihrer Heimat umzugehen. TikTok bedeutet hier Hoffnung auf Gehör.

Erschienen in: Falter, 03/22

Christine Zeiner 03/2022

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