Zäune, Überwachung und Gewalt an den EU-Außengrenzen hindern laut „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) Menschen nicht daran, zu flüchten. Folglich müssten „alle Maßnahmen, die weiter zur Aushöhlung des Asylrechts führen, unterbunden werden“, so Jana Cernioch, Beraterin für humanitäre Angelegenheiten bei MSF in Rom, im Telefonat mit der APA. Sie kritisiert etwa die „massive Behinderung von Rettungsaktionen seitens der italienischen Regierung mit dem Ziel, die Ankünfte zu reduzieren.“
Im Februar hatte die Regierung in Rom ein Gesetz verabschiedet, das die Einsätze der Rettungsschiffe von NGOs erschwert. Das Schiff „Geo Barents“ von Ärzte ohne Grenzen wurde daraufhin 20 Tage lang festgesetzt, die Organisation erhielt außerdem eine Geldstrafe von 10.000 Euro.
Die „Geo Barents“ ist nun wieder im zentralen Mittelmeer aktiv und rettet – wie auch andere NGOs – Menschen in Seenot. Und die Zahl der Männer, Frauen und Kinder, die sich in unsicheren, überfüllten Booten auf den Weg nach Italien macht, steigt. Allein am vergangenen Wochenende kamen laut Angaben aus Rom 5.573 Menschen an den süditalienischen Küsten an. Seit Jahresanfang wurden nach offiziellen Zahlen bereits knapp 27.000 Schutzsuchende in Booten registriert – deutlich mehr als vier Mal so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum mit 6.543 Menschen.
„Die Politik muss anerkennen: Es ist eine Tatsache, dass Menschen flüchten“, sagt MSF-Mitarbeiterin Cernioch. Eine restriktivere Politik führe dazu, dass mehr Menschen zu Schaden kommen und sterben. „Was wir entlang der europäischen Außengrenzen sehen, ist massive Gewalt, die der Abschreckung dienen soll. Die Menschen wählen aus der Not heraus andere, gefährlichere Fluchtrouten.“ Ärzte ohne Grenzen ortete in den vergangenen Monaten etwa eine gestiegene Zahl an Überfahrten von der Türkei nach Italien. Der Weg über das zentrale Mittelmeer ist weiter und gefährlicher als jener nach Griechenland, von wo aus die NGO aber unzählige Berichte von gewalttätigen und illegalen Zurückweisungen, sogenannten Pushbacks, erhalte.
Ärzte ohne Grenzen ist seit 2015 mit eigenen Schiffen im zentralen Mittelmeer aktiv und hat bisher 88.000 Menschen gerettet. „Es braucht eine europäische Antwort auf das Sterben im Mittelmeer“, sagt Cernioch und weist Behauptungen, wonach erst NGOs Menschen dazu ermutigten, sich auf den Weg zu machen, zurück. „Weniger Rettungsfahrten bedeuten mehr Tote und nicht weniger Menschen, die flüchten.“ Das, was mehr Menschen zu einer der gefährlichen Überfahrten bringen würde, seien vielfältige Gründe wie Gewalt, Krieg, sexueller Missbrauch, Genitalverstümmelungen, Rassismus, die Suche nach der Möglichkeit für ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben. Rettungsschiffe dagegen würden nicht zur Flucht animieren – genauso wenig würden Zäune Menschen an der Flucht hindern.
Das sehen zahlreiche Studien ähnlich. „Wir finden keinen Zusammenhang zwischen der Präsenz von NGOs auf See und der Zahl der Migranten, die die libyschen Küsten verlassen“, heißt es beispielsweise in einer Untersuchung des Migration Policy Centres des European University Institutes in Florenz.
Cernioch, die selbst immer wieder bei Rettungsfahrten dabei ist, appelliert an die EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission, auf Italien Druck auszuüben, das neue Gesetz zurückzunehmen. Gleichzeitig dürfe Italien beim Thema Flucht nicht allein gelassen werden. „Mit der Seenotrettung ist es nicht getan.“
Am Donnerstag verurteilte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Italien im Zusammenhang mit der Behandlung von tunesischen Geflüchteten auf der Insel Lampedusa. Italien habe unter anderem gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, so die Richter in Straßburg. Ebenfalls am Donnerstag prangerte das Anti-Folter-Komitee (CPT) des Europarats erneut die Misshandlung von Geflüchteten und die Pushbacks an den EU-Außengrenzen an.
Die zivile Seenotrettung ist laut Ärzte ohne Grenzen eine Folge des Auslaufens der italienischen Rettungsoperation Mare Nostrum am 31. Oktober 2014. Einen Tag später begann die Operation Triton der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.
Erschienen in: APA/03-2023