SPD-Doyenne Gesine Schwan: EU-Asylpolitik höchst problematisch

Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan sieht den EU-Asylkompromiss höchst problematisch – und spart auch nicht mit Kritik an ihrer Parteikollegin und deutschen Innenministerin Nancy Faeser. Als „enttäuschend“ und „intellektuell nicht redlich“ beurteilt sie deren Wortwahl im Interview mit der APA. Selbst wirbt Schwan für einen Vorschlag, der sowohl Geflüchteten als auch Gemeinden und Einheimischen helfen soll.

Bei Formulierungen wie „den Schleppern das Handwerk legen“ wüssten „alle, je strenger wir Flüchtlinge abschrecken wollen, desto mehr fördern wir das Geschäft der Schlepper“, sagte SPD-Doyenne Schwan. Die 1972 in die Partei eingetretene Politologin spricht sich dagegen aus, den Asylkompromiss als „historischen Erfolg hinzustellen“. Diese Formulierung hatte Deutschlands Innenministerin am 8. Juni auf Twitter verwendet.

Die Pläne der Innenministerinnen und Innenminister der EU sieht Schwan als „zum Scheitern verurteilt“an. Diese könnten nicht klappen, da „vieles nicht durchdacht“ sei, angefangen von der Idee, aus nordafrikanischen Staaten sichere Drittstaaten machen zu wollen. Auch gebe es keinen Grund zur Annahme, dass Flüchtende in erster Linie in den Asylzentren an der EU-Außengrenze landen würden: Diese hätten „Gefängnischarakter, und es gibt für Geflüchtete dort nichts Positives zu erwarten“.

Den rhetorischen Umschwung Faesers erklärt sich Schwan mit dem Wunsch, zu einer Einigung in der EU zu kommen und mit „politisch-taktischen Überlegungen“: Faeser tritt bei der Wahl am 8. Oktober im Bundesland Hessen als Spitzenkandidatin an. „Sie will gewinnen, da will sie sich jetzt nicht angreifbar machen.“ Schwan spricht zudem von „Fake-Rhetorik“, zu der Politikerinnen und Politiker meinen greifen zu müssen, um glaubwürdig zu wirken. Denn zu sagen „das ist alles wackelig, und ob das klappt, weiß ich nicht, aber wir wollten jetzt einen gemeinsamen Beschluss fassen, man kann ja daran weiterarbeiten“, sei kommunikativ schwieriger.

„Ich glaube aber, dass sich Ehrlichkeit auszahlen würde“ anstelle „dieser durchschaubaren Rhetorik“, sagte Schwan. Die Öffentlichkeit wisse dann „wenigstens Bescheid, warum man einen Beschluss vertritt, an dem man inhaltlich einiges Erhebliche auszusetzen hat. Das wäre aufklärerisch, würde ich sagen“.

Schwan spricht sich für „positive Anreize“ aus und schlägt ein Pilotprojekt vor, um „eine andere Logik in die EU Flüchtlingspolitik zu bringen“. Kurz erklärt: Kommunen, die freiwillig Geflüchtete aufnehmen, bekommen auch Geld für die „Einheimischen“. In der Höhe der Integrationskosten erhalten sie demnach Mittel für die Finanzierung eigener Projekte. Eingeführt werden solle ein „Matching-System“: Abgeglichen würden die Interessen, Wünsche, Möglichkeiten, Angebote, der Bedarf der Kommunen und der Geflüchteten.

Gefragt nach dem neuen SPÖ-Chef Andreas Babler, sagte Schwan: Dass dieser Bürgermeister einer Gemeinde sei, „davon halte ich ja immer eine Menge, weil ich glaube, dass echte demokratische Politik in den Kommunen gemacht wird“.

Die „politische Kultur in Österreich“ sieht Schwan als „sehr schwierig an, da gibt es doch nach wie vor einen erheblichen Bodensatz an nicht aufgearbeiteter Vergangenheit“. Dies mache sich „gerade in der Migrationsfrage sehr bemerkbar“.

Was die Sozialdemokratie in dieser Frage auf internationaler Ebene tun könne? „In der Sozialistischen Internationalen kann man nur etwas machen, wenn man eine klare und auch mutig vertretene Position hat“, sagte Schwan. „Das ist schon innerhalb nationaler Parteien nicht leicht. Durch den EU-Kompromiss ist vieles noch schwieriger geworden.“

Gesine Schwan wurde 1943 in Berlin geboren. Seit 2014 führt sie den Vorsitz der SPD-Grundwertekommission, die Anfang der 1970er-Jahre unter dem damaligen Parteivorsitzenden Willy Brandt eingerichtet wurde, um „neue Herausforderungen für die SPD rechtzeitig zu erkennen und sie im Lichte der sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu beurteilen“, wie es in einer Selbstbeschreibung heißt. „Das sollte und soll ihr bis heute helfen, für ihre Politik auf der Höhe der Zeit normativ orientierte Antworten zu finden und sie praktisch umzusetzen.“ 2004 und 2009 kandidierte Schwan für das Amt der deutschen Bundespräsidentin und verlor beide Male gegen Horst Köhler. Schwan war Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder sowie der Humboldt-Viadrina School of Governance und ist Präsidentin der Berlin Governance Platform.

APA/2023-06-29

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