Vor ein paar Wochen sind Paco und Ana nach Berlin gekommen. Sie wohnen als Zwischenmieter unserer früheren Nachbarin neben uns, die die Wohnung mit Ende Jänner gekündigt hat. Die zwei Zimmer sind möbliert, viel mehr als ein paar Kleider und Pacos Gitarre haben die zwei nicht mitgenommen. Granada war ihnen zu eng, in Berlin lebt man freier, sagen sie. Und ja, natürlich ist es zurzeit auch wirtschaftlich nicht einfach in Spanien. Viele Bekannte sind weggegangen. Paco hatte eine Bar betrieben, die Einnahmen waren weniger geworden. Dazu hätte er laut Gesetz eine neue Abluftanlage einbauen müssen. Jetzt spielt Paco in U-Bahnstationen Gitarre. Ana, die in Spanien mit Behinderten gearbeitet hat, lernt Deutsch und hilft in einem Hotel als Zimmermädchen aus. „Sag Merkel, wir brauchen Geld!“, hatten Bekannte ihnen zum Abschied zugerufen. „In Spanien glaubt man, Angela Merkel ist Gott“, sagt Paco. „Man sieht in ihr eine Mutter, die sich um alles kümmern kann. Sie sieht ja auch so aus“, sagt Ana. Aber man fürchtet das Spardiktat.
Angela Merkel, die Kümmerin und Retterin Deutschlands und Europas: So stellt sich die mächtige deutsche Kanzlerin selbst dar. „Immer“ habe sie die „ganze Eurozone“ im Blick. „Die eine Lösung“ gebe es nicht, der Euro aber solle „stärker“ aus der Krise herauskommen. Und immer und immer wieder verkündete sie in den vergangenen Monaten, wenn der Euro scheitere, dann scheitere Europa.
Die Gipfeltreffen tragen Merkels Handschrift. Merkel steht für einen harten Sparkurs und für Kontrolle. „Vorschnelle Hilfen“ lässt sie nicht zu. Im Frühjahr 2010 zögert sie lange mit den wichtigen Hilfen für Griechenland, die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, sind ihr wichtiger. Ihr wird vorgeworfen, keine echte Europäerin zu sein. Die CDU verliert die Wahl, doch viele Deutsche schätzen die vereinfachte Formel „kein Cent für Griechenland“. Mittlerweile wird geholfen – nicht ohne Aber: „Deutschland ist der Wirtschaftsmotor in Europa, doch auch Deutschlands Kräfte sind begrenzt“, sagt die Kanzlerin, und solche Sätze kommen gut an. Merkel steht für Sicherheit. Daran ändert auch der geschönte Armutsbericht der Regierung nichts. Dass die gesellschaftliche Spaltung in Deutschland größer wird, steht nur in der ersten Fassung ganz vorn. Und der Lohn-Report der Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen bemerkt zwar positiv eine „Kehrtwende“ bei der Lohnentwicklung, kritisiert aber die steigende Zahl schlecht bezahlter und unsicherer Arbeitsverhältnisse.
Arbeitsmarkt und breiter Wohlstand – das sind keine Themen, für die sich Merkel stark macht. Sie lobt die Agenda-2010-Politik der Regierung Gerhard Schröder, ein eigenes Programm fehlt. So gibt es Kleinigkeiten, deren Nutzen noch dazu zweifelhaft ist: Ärmere Familien, die ihren Kindern Musik- oder Sportkurse zahlen, können nun dafür einen Zuschuss von zehn Euro im Monat beantragen. Der bürokratische Aufwand ist groß, oft warten die Eltern viele Monate auf die Rückerstattung. Und manche können sich die Kurse trotz der Unterstützung nicht leisten. Wer sein Kind nicht in den Kindergarten schickt, also auf eine staatliche Leistung verzichtet, erhält finanzielle Unterstützung. Das Einkommen spielt dabei keine Rolle. Im Freundeskreis wünscht man sich keinen Zuschuss, sondern – teils verzweifelt – Kindergartenplätze: Beide Elternteile wollen arbeiten. Das Alleinverdienermodell könnten sie sich zudem nicht leisten.
Das jüngst beschlossene neue Mietrecht wiederum hilft Altmietern ein bisschen und Neumietern gar nicht. Die Mieten dürfen nun nur noch um höchstens 15 Prozent innerhalb von drei Jahren angehoben werden anstelle von bisher 20 Prozent. Wer eine Wohnung neu mietet, muss zahlen, was verlangt wird. Eine Deckelung gibt es nicht. Für viele in den Großstädten werden die Mieten zunehmend zum Problem – auch im als bisher preiswert geltenden Berlin. Für Paco und Ana heißt das: Ihre Zwischenmiete wird vermutlich nicht verlängert. Die Hausverwaltung lässt lieber ohne großen Aufwand die Böden abschleifen, die Wände streichen und das Bad erneuern und kann so von neuen Mietern noch mehr verlangen als sie es auch ohne den Verschönerungen tun würde. Die Nachfrage nach Wohnungen in Berlin ist hoch, auch in unserem noch vor kurzem verschrienen Bezirk. Freunde, die schon seit ein paar Jahren hier wohnen und entsprechend gute Mietverträge haben, erzählen von Wasserschäden, die wochenlang nicht behoben werden und von Neuvermessungen, die eine wundersame Flächenvermehrung mit sich bringen: Man will die Altmieter loswerden.
„Es gäbe heute mehr Grund, sich zu rühren als vor zwei Jahren“, sagt der Soziologe und Protestforscher Dieter Rucht. Damals zeichneten die Medien das Bild einer Protestwelle, von „Wutbürgern“ war die Rede. Rucht hatte dieses Bild stets relativiert. Sichtbar waren Proteste gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“, in Hamburg gegen die sechsjährige Primarschule und in Berlin gegen die Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke. Dagegen wirkt Deutschland heute ruhig. Doch unter dieser Oberfläche, die Rucht „vermeintlich ruhig“ nennt, brauen sich „Tiefenstränge zusammen, von denen nicht klar ist, ob sie aufbrechen“. Wird man Politikern – egal welcher Coleur – immer weniger vertrauen, auf die Straße gehen? Oder wird man mehr oder weniger beruhigt auf die europäischen Nachbarn schauen und denken: So schlecht geht es uns gar nicht. Vor ein paar Jahren gab es den Pisa-Schock, die Debatte über Einwanderung und die Angst, „auszusterben“ bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Heute, sagt der Zeithistoriker Paul Nolte, herrsche ein „diffuses Common-sense-Gefühl“. Im Vergleich zu anderen Ländern geht es der Bundesrepublik gut. Zugleich blickt man zunehmend verunsichert in die Zukunft: Wie geht es mit der Eurokrise weiter? Wird es in dreißig, vierzig Jahren Renten geben? Wie entwickelt sich die Arbeitswelt? Und was macht der Klimawandel? Das alles, so der Soziologe Rucht, ist ein potenzieller Nährboden für eine sich manifestierende Wut – die allerdings um sichtbar zu sein einen konkreten Auslöser und einen konkreten Adressaten braucht.
Beides hat Griechenland. Der Auslöser für die Proteste sind die Sparauflagen. Symbolhaft steht dafür Angela Merkel. „Wir haben nichts gegen die Deutschen – wir haben nur etwas gegen Merkel“, sagte uns die 30-jährige Athenerin Magda im Spätsommer. Viele ihrer Freunde können sich keine eigene Wohnung leisten und leben wie sie selbst bei den Eltern. Und viele hätten keine Arbeit oder große Angst, ihren Job zu verlieren. Eine Langzeitarbeitslosenunterstützung wie Hartz IV in Deutschland gibt es nicht.
„Frau Merkel – get out“, war auf Transparenten zu lesen, die Demonstranten beim Athen-Besuch der Kanzlerin im Oktober hoch hielten. Ein Jahr zuvor hatte die griechische Zeitung „Dimokratia“ eine Fotomontage von ihr mit Hakenkreuzbinde gedruckt. Sie wisse, dass die Griechen schon viel „erlitten“ und „erduldet“ hätten, sagte Merkel beim Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras im August in Berlin. Wenige Wochen später ergänzte sie in Athen: Langfristig lohne sich das.
Der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Ferdinand Fichtner, hält Merkels Politik für ein „notwendiges Korrektiv“. „Der soziale Zusammenhalt wird durch die erzwungenen Sparmaßnahmen aber zunehmend auf die Probe gestellt.“ Es sei „aller-, allerhöchste Zeit“, sich Gedanken über eine europäische Arbeitslosenversicherung zu machen. Das allerdings hat Merkel auf dem Gipfel Mitte Dezember erneut abgelehnt. Ob die deutsche Kanzlerin einmal als „Euroretterin“ gelten wird, ist offen. Und innenpolitisch gibt es bisher kein Thema, mit dem man Merkel verbindet, anders als das bei ihren Vorgängern der Fall ist. Gerhard Schröder steht für die Agenda 2010, Helmut Kohl für die Deutsche Einheit, Helmut Schmidt für den Deutschen Herbst.
Das große Thema der Zukunft, die Energiewende, geht nicht auf sie zurück. Merkel hatte zunächst beschlossen, die damals 17 deutschen Atomkraftwerke weit länger in Betrieb zu lassen, als dies von Rot-Grün vorgesehen worden war. Was kurze Zeit später in Fukushima passierte, hielt die Naturwissenschaftlerin Merkel bis dahin nicht für möglich. Fassungslos nahm sie die Laufzeitverlängerungen zurück. Ein Meisterstück ist die Energiewende bisher nicht. Der Strom wird teurer, es fehlen Leitungen und Speicherkapazität.
Wird Merkel 2013 erneut an der Macht sein? Zurzeit sieht es gut für sie aus. Noch aber sind es knapp zehn Monate bis zur Wahl. Sollte Merkel dann, nach Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb, in einer dritten Konstellation regieren, ginge sie in die Geschichte ein, prophezeit Historiker Nolte.
Erschienen in: Wiener Zeitung/Beilage zum Jahreswechsel 2012/2013
Datum: 12/2012