Endlich Berlin. Über Flüchtlinge in der Hauptstadt und das Chaos am „LaGeSo“

Rula hat es nach Berlin geschafft. Syrien, Türkei, Griechenland, Frankreich, Deutschland. In Frankfurt habe sie gehört, in Berlin sei es besser. Also haben Rula und ihr Mann Bahntickets für sich und die zwei Söhne gekauft. Nun sind sie hier, den dritten Tag auf dem Gelände des „LaGeSo“. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales ist in Berlin für die Erstregistrierung von Flüchtlingen zuständig. Rula schaut nach links, nach rechts, lächelt kurz und sagt dann auf Englisch: „Besser – naja.“ Sie seien jedenfalls in Sicherheit. „Das ist das Wichtigste.“

Hunderte Menschen kommen täglich in Berlin an, fast alle müssen zum „LaGeSo“. Etwa fünfzehn Minuten zu Fuß ist das Gelände vom Hauptbahnhof entfernt. Seit ein paar Tagen gibt es auch mobile Teams, die Erstregistrierungen in den Notunterkünften vornehmen. Das bedeutet nicht, dass in Moabit weniger los wäre.

Vor dem großen, grauen Gebäude auf dem Gelände mit den vielen Backsteinhäusern stehen, sitzen und liegen überall Menschen. Ein paar haben sich an den Truck gelehnt, auf dem „Digitales Röntgenmobil – Zentrum für tuberkulosekranke und gefährdete Menschen“ steht. Manche haben eine Unterlage, andere sitzen einfach auf dem sandigen Boden. In einem kleinen Zelt stehen ein paar Bierbänke, auf denen vor allem Frauen und Männer mit Kindern sitzen. Vor einem der zwei Containerklos hat sich eine kleine Schlange gebildet.

Direkt vor dem Eingang zur Registrierung warten dutzende Menschen hinter- und nebeneinander zwischen Absperrungen, die ein wenig Ordnung bringen sollen. Sicherheitspersonal schaut darauf, dass die Masse nicht allzu sehr schiebt. Jeder will eine Nummer. Mit einer Nummer kann man sich registrieren lassen. Eine kleine Tafel zeigt an, welche an der Reihe sind. Soweit sind Rula und ihre Familie noch lange nicht.

„Gestern waren wir um sechs Uhr Früh da“, sagt sie während ihr kleinerer Bub – sechs Jahre alt – neben ihr ein Spielzeugauto hin- und herschiebt. „Heute sind wir um vier gekommen. Bis jetzt ohne Erfolg. Viele kommen noch früher. Die Menschen übernachten auch im Park gegenüber.“ Rulas Mann versucht sein Glück mit dem 13-jährigen Sohn in der Menge vor dem Haus während Rula mit dem Kleinen ein paar Meter entfernt auf einem Betonmäuerchen sitzt. Vor ihr liegen zwei kleine Taschen und ein Kinderrucksack auf dem Boden. „Mein Bild von Deutschland hat sich total geändert“, sagt sie. „Früher dachte ich immer nur, die Deutschen seien so tough. Dabei sind sie so freundlich, so nett.“

Über das „Chaos“ am LaGeSo – wie es deutsche Medien formulieren – verliert sie kein Wort. Ohne freiwillige Helfer sähe es hier noch trister aus. Seit Monaten ist die Anrainerinitiative „Moabit hilft“ vor Ort, kümmert sich um Essen, Bustickets, Handywertkarten, Wasser, Kleidung, Dolmetscher, medizinische Versorgung und Notunterkünfte für die Wartenden. Es war eigentlich als Erste-Hilfe-Aktion gedacht. Seit kurzem – und nach lautstarker Kritik am Berliner Senat – gibt es auch professionelle Unterstützung. Doch diese reicht nicht.

Nach wie vor koordiniert „Moabit hilft“ Freiwillige, die mal zwei, drei Stunden, mal einen ganzen Tag und manchmal wochenlang mitmachen. Mittlerweile kommen sie aus ganz Berlin. In der „Kinder-Kleiderkammer“ – einem der kleineren Backsteinhäuser auf dem Gelände – sortiert Michael ehrenamtlich Gewand in Kisten. Draußen warten Mütter, Väter und Kinder. Um 15 Uhr ist wieder Einlass, vorher versuchen die Helfer, Ordnung zu machen. „Ist auch ein Statement“, sagt Michael und nimmt einen vollgekotzten Strampler aus einem blauen Plastiksack. Zwei Tage vorher haben Neonazis vor dem „LaGeSo“ demonstriert. Einen Mann, der dutzende selbstgemachte Wraps vorbeibringen wollte, mussten die Helfer abweisen – nicht nur, weil das Amt solche Spenden aus hygienischen Gründen untersagt. „So schlimm es ist – und man will ja auch niemandem etwas unterstellen -, aber weiß man, ob die Wraps nicht vergiftet sind?“, sagt einer der Helfer. „Laufen ja genug Freaks hier in Berlin rum.“

Aus einem Zelt, in dem nun seit Ende August der Berliner Krankenhauskonzern Vivantes kocht, kommt eine Frau mit einem Tablett und sechs Plastikschüsserln mit Gemüsesuppe, Plastiklöffel und Brötchen. Frau N. verbringt ihren Urlaub hier. Eigentlich habe sie zwei Wochen lang wegfahren wollen, doch der VW-Bus sei nicht angesprungen. Deshalb helfe sie mit ihrem Mann nun Flüchtlingen, so mache man wenigstens etwas Sinnvolles. Frau N. geht auf den Platz mit den wartenden Menschen zu, lächelt einige an und fragt mit einer kleinen Geste, ob sie Suppe möchten. Ein Mann lacht und deutet auf seinen Bauch, den er dick macht – er habe schon gehabt, thank you, sagt er noch.

Helferin Elfi zeigt derweil einer Frau, wo sie die mitgebrachten Bustickets abgeben kann: Spenden werden in „Haus R“ von „Moabit hilft“ entgegengenommen. Am Abend verteilen die Ehrenamtlichen die dringend benötigten Bustickets an Flüchtlinge, damit diese in Notunterkünfte fahren können – wenn man einen Platz für sie findet.

Auch Rula weiß noch nicht, wo sie und ihre Familie heute schlafen werden. Die letzten zwei Nächte seien sie bei syrischen Bekannten untergekommen. Diese hätten ihnen auch gesagt, dass sie zum LaGeSo müssten. „Was sollen wir tun“, sagt Rula. Wir müssen eben warten, so wie alle hier. Hoffentlich haben wir bald Glück.“

*

Info-Box:

500 Flüchtlinge kommen im Schnitt pro Tag in Berlin an – jene nicht einberechnet, die in Bussen als „Kontingente“ aus München und Passau geschickt werden. Sie alle müssen zur Erstregistrierung: Mithilfe einer speziellen Software entscheidet der Sachbearbeiter des „Landesamtes für Gesundheit und Soziales“ (LaGeSo), wer in Berlin bleibt und wer mit Bahnticket und Lunchpaket ausgestattet in ein anderes Bundesland weiterfahren muss. Im Großen und Ganzen herrscht das Zufallsprinzip.

Welches Bundesland wieviele Flüchtlinge aufnimmt, ist in Deutschland genau festgelegt. Als Berechnungsgrundlage für den sogenannten Königssteiner Schlüssel werden Einwohnerzahl und Steuereinnahmen der einzelnen Länder herangezogen. So kommen in das bevölkerungsreichste Land Nordrhein-Westfalen die meisten Flüchtlinge – 21 Prozent sind das heuer. Auf die strukturstarken Länder Bayern und Baden-Württemberg entfallen die zweit- und dritthöchsten Zahlen. Berlin liegt mit 5 Prozent noch im oberen Feld, an letzter Stelle kommt der kleine Stadtstaat Bremen mit 0,9 Prozent.

Etwa 300 Registrierungen schafft das Berliner LaGeSo zurzeit pro Tag. Die Wartezeit ist enorm. Das Registrierungssystem sei „sehr, sehr überlastet“, heißt es vom Senat.

Auch diejenigen, die die Erstregistrierung hinter sich haben, müssen weiter warten, um an finanzielle Unterstützung, einen festen Schlafplatz und einen Krankenschein zu kommen: Acht bis zehn Wochen vergehen, bis der registrierte Flüchtling beim zuständigen Sachbearbeiter vorsprechen kann. Für die Zwischenzeit händigt Berlin deshalb den bereits Registrierten Geldkarten mit 6 Euro pro Tag und Person aus. Tausende Menschen hängen indes zwischen den Seilen, weil sie nicht registriert sind.

Es könne durchaus der Eindruck entstehen, dass in Berlin alles furchtbar und chaotisch sei, heißt es vom Senat. Dabei versuche man, so schnell wie möglich zu reagieren – hinke aber hinterher: Es kämen einfach so viele Menschen. Die 150 LaGeSo-Mitarbeitern sollen demnächst von dutzenden Zusatzkräften unterstützt werden. Auch eröffne man fast täglich neue Unterkünfte. Seit dem 5. September seien 7.000 Betten hinzugekommen, 23.000 gebe es somit nun in Berlin.
*

Erschienen in: Profil, OÖNachrichten

Datum: 09/2015

About the author