In Deutschland geht das Licht aus

Sie schwenken Deutschland-Fahnen, schwarz-rot-goldene Papier-Laternen und Transparente, auf denen „Heimatschutz statt Islamisierung“, „Gegen religiösen Fanatismus“ und „Gegen Glaubenskriege auf deutschem Boden“ steht. Es sind Tausende, die nun schon seit Wochen durch Dresden ziehen. Erst waren es ein paar Hundert, von Woche zu Woche wurden es mehr, die auch von außerhalb anreisten. 18.000 versammelten sich zuletzt unter dem Kürzel Pegida. Der 41-jährige Dresdner Lutz Bachmann hatte mit einer Facebook-Gruppe begonnen und im Oktober die erste Demonstration der sogenannten „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ angemeldet. Er wettert gegen die – wie er sagt – „Vollversorgung von Flüchtlingen“: Nun soll es wieder um „uns Deutsche“ gehen. Ableger hat Pegida mittlerweile in Berlin, Köln, Düsseldorf, Darmstadt und Rostock. Seine Rolle spielt Bachmann herunter, als Chef sieht er sich laut „Süddeutscher Zeitung“ nicht: „Ich bin nur ein ganz kleines  Zahnrad in etwas viel Größerem.“

Rückt Deutschland nach rechts? In Bayern zünden Neonazis Häuser an, die Flüchtlingen einmal als Unterkünfte dienen sollten, in Berlin-Marzahn demonstrieren ebenfalls seit einigen Montagen Rechtsextreme, die sich „Bürgerinitiativen“ nennen, gegen geplante Flüchtlingsheime. Und die junge Partei „Alternative für Deutschland“ feiert mit rechtspopulistischen Aussagen Wahlerfolge. Was sie alle eint, ist mehr oder weniger großer und mehr oder weniger deutlich gezeigter Hass auf Flüchtlinge und auf den Islam sowie der Schnitt zu den etablierten Parteien. Es sind Menschen, die die herkömmliche Politik nicht mehr oder nur noch sehr schwer erreicht – was nicht heißt, dass sich all die ausländerfeindlichen, wütenden Demonstranten in einer neuen Partei, beispielsweise in der „Alternative für Deutschland“ sehen würden.

Das Land ist jedenfalls irritiert. In Talkshows und Diskussionrunden versucht man, über dieses „ganz neue Phänomen nachzudenken“. Die Überraschung über die tausenden unzufriedenen Menschen versteht Konfliktforscher Andreas Zick nicht so ganz: Die „ideologischen Linien“ seien seit Jahren vorhanden. Man hätte es sehen können, dass sich Splittergruppen aus der bürgerlichen Mitte bilden und auch auf die Straße gehen.

In Dresden demonstrierten am Montagabend laut Polizei rund 18.000 Pegida-Anhänger – so viele wie nie zuvor – gegen eine angebliche „Überfremdung“. Doch die Zahl der Gegendemonstranten erreichte deutschlandweit ebenfalls einen Höchststand: Allein in Münster waren es fast 10.000, in Stuttgart 8000, in Dresden und Berlin jeweils rund 5000 und in Hamburg 4000, die gegen Fremdenfeindlichkeit protestierten. In Köln sorgten tausende Menschen für ein vorzeitiges Ende des Pegida-Protestzugs, zudem wurde der weltberühmte Dom verdunkelt. Und auch in Berlin ging das Licht am Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen der Stadt, aus, um Pegida keine beleuchtete Kulisse zu bieten. In Dresden schaltete Volkswagen die Beleuchtung der gläsernen Automobilmanufaktur ab. Die Abdunklungsaktionen laufen unter dem Motto: „Licht aus für Rassisten“.

Deutschland rätselt, wer die Pegida-Demonstranten eigentlich sind und was sie wollen. Seit vielen Jahren untersuchen die Sozial- und Konfliktforscher der Uni Bielefeld das Ausmaß „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Demnach gab es immer wieder Schwankungen, aber keine „exorbitanten Ausschläge“, wie Studienmitautor Andreas Grau sagt. Den Anfang einer rechten Lawine sieht er nicht. Auch Demokratieforscher Wolfgang Merkel sieht dafür keine Anzeichen. „Auch wenn da viel ist, was einen politischen Hafen sucht.“ Folgt man Wolfgang Merkel und dem Wissenschaftszentrum Berlin, ist Deutschland auf dem Weg zu einer „Zwei-Drittel-Demokratie“: Der Anteil der unteren Schichten, der „draußen“ ist, ist neu. Es sind vor allem jene, die – wenn überhaupt – prekär beschäftigt sind und die sich längst von den Volksparteien oder den Gewerkschaften verabschiedet haben. Dass dieses Drittel nennenswert von rechten Gruppen mobilisiert werden könnte, kann sich Merkel nicht vorstellen: „Diese Menschen sind politisch eher apathisch.“

Ein Teil der unteren Mittelschicht marschiert aber bei „Pegida“ mit und agitiert anstatt im Wirtshaus nun auf der Straße. Rechtsextreme, Neonazis und Hooligans haben sich darunter gemischt, aber etliche der Demonstranten wollen sich selbst keinesfalls ins rechte Eck gestellt wissen. Sie nennen sich „normale Bürger“, die eigentlich auch nichts gegen Flüchtlinge hätten – sofern es sich um „Kriegsflüchtlinge“ und nicht um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handle. Abstiegsangst? „Wir sind keine Leute mit Abstiegsangst“, ruft Pegida-Initiator Bachmann in Dresden. Das altbekannte Phänomen, dass dort die höchste Angst besteht, wo es die geringsten Berührungspunkte mit Migration gibt, dürfte eine Erklärung dafür sein, dass „Pegida“ in Sachsen vergleichsweise stark ist. Gerade dort braucht sich niemand vor „Überfremdung“ sorgen. Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund liegt dort bei etwas über zwei Prozent, in Berlin ist der Anteil mehr als sechsmal so hoch. „Pegida“ ist – so steht es im Positionspapier des „Orga-Teams“ auf Facebook – durchaus „für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Verfolgten. Das ist Menschenpflicht!“ Und man sei gegen Radikalismus, „egal ob religiös oder politisch motiviert!“.

Die „normalen Bürger“, die „kleinen Leute“ haben ein betont harmlos klingendes Sprachrohr bekommen mit den Demonstrationen, die „Spaziergänge“ genannt werden. „Wir sind das Volk!“, rufen sie dabei wie vor 25 Jahren. Damals gingen Zehntausende auf die Straße. Jahrelang hatte die DDR-Spitze über die Köpfe der Bürger hinweg bestimmt. Wer sich dagegen auflehnte, wurde verhaftet – doch 1989 musste die Staatsführung aufgeben. Ist es das, was die heutigen Demonstranten wollen?

Ein Teil der heutigen Demonstranten sieht, wie der Konfliktforscher Zick von der Uni Bielefeld in der ARD sagte, Demokratie als eine „Firma“, der man kündigen kann, wenn sie nicht liefert. Gegenmodelle aber bergen die Gefahr, in Gewalt auszuarten. Zick sieht „massive Defizite“ im Umgang mit Demokratie – dem müsse sich die Politik stellen.

Die Folge des Tabus, nicht fremdenfeindlich auftreten zu können, begleitet Deutschland seit fast 70 Jahren. Anders als in Österreich, Frankreich oder den Niederlanden haben es rechte Parteien in Deutschland deshalb schwer. Zwar ist die rechtsextreme NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten, in Sachsen schaffte sie den Wiedereinzug im Sommer aber nicht mehr. Und die etablierten Kräfte wollen mit der NPD ohnehin nichts zu tun haben. Rechts neben der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, verkündete einst der langjährige Vorsitzende der bayrischen Konservativen Franz-Josef Strauß. „So wie Jörg Haider in Österreich gezündelt hat, wie er zum Beispiel ehemalige Soldaten der Waffen-SS als anständige Menschen mit Charakter bezeichnet hat, so etwas geht bei uns schlicht nicht“, sagt Demokratieforscher Merkel. „Der rechte Raum wird bei uns wegen unserer barbarischen Vergangenheit nicht straflos besetzt.“

Was aber eben nicht heißt, dass der Raum nicht da wäre. Merkel verweist auf Studien, wonach der Anteil an Menschen mit fremdenfeindlicher Einstellung in der Bundesrepublik in etwa so hoch liegt wie im europäischen Durchschnitt. Neu ist, dass sich diese Einstellungen nun offener zeigen. Einer der Gründe dafür dürfte – darin ist sich Merkel mit den Wissenschaftern der Uni Bielefeld einig – bei der CDU zu finden sein: Unter ihrer Chefin Angela Merkel rückte die Partei in die Mitte, wo bekanntlich Wahlen in Deutschland zu gewinnen sind. Dort sind jene zwei Drittel der Wähler zu finden, die für eine Volkspartei interessant sind. Mit dem Zug zur Mitte wurde auf der politischen Rechten Raum frei.

Eine Partei, die diesen Raum auszufüllen versucht, ist die Alternative für Deutschland. Die AfD präsentiert sich betont bürgerlich, distanziert sich einmal empört von rechtem Gedankengut, lässt aber ein anderes Mal mit rechtspopulistischen Tönen aufhorchen. Bei der Europawahl im Mai holte die Alternative für Deutschland 7,1 Prozent mit dem Slogan „Mut zu Deutschland“.

Ob sie „Pegida“ aber gut findet, darüber ist sich die AfD zumindest offiziell noch nicht einig. Ein Teil distanziert sich, ein Teil unterstützt die Demos, ein Teil sagt, dass man einfach mal vorbeischauen wollte, um sich selbst ein Bild machen zu können – so wie Alexander Gauland, AfD-Klubchef im Brandenburger Landtag. Wenige Tage vorher hatte Gauland noch von „Pegida“ als „natürliche Verbündete“ gesprochen. Der bundesweite Erfolg der Partei dürfte es „Pegida“ jedenfalls erleichtert haben, in Erscheinung zu treten.

Erschienen in: Wiener Zeitung und (in Teilen) Profil

Datum: 01/2015

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