“Auch Willy Brandt war ein Flüchtling”

Er grüßt mit “Moin” und sagt, dass Schleswig-Holstein seine Heimat ist: Tarek Saad will
am 8. Mai in den Kieler Landtag einziehen. Seit 2021 ist er im Landesvorstand der SPD.
Der 29-jährige Syrer ist 2014 nach Deutschland geflüchtet, mittlerweile hat er die deutsche
Staatsbürgerschaft. In Syrien zertrümmert ein Scharfschütze seine linke Schulter, er liegt
im Koma. Statt andere zu töten, wollte er den Krieg via Fotos und Videos für die Welt
dokumentieren und fuhr an die Front. Schwer verletzt flieht er nach Deutschland. Auf einer
Anti-Pegida-Demonstration ist er vom damaligen Ministerpräsidenten Thorsten Albig
(SPD) angetan und von der Polizei, die friedlich agiert. Für die Sozialdemokraten, die im
Bund die Regierung anführen, sieht es im Norden indes schlecht aus: In den Umfragen
liegt die SPD mit 20 Prozent abgeschlagen hinter der CDU, die stetig zulegt und seit 2017
mit den Grünen und der FDP in Kiel regiert.

Herr Saad, wie läuft Ihr erster Wahlkampf in Deutschland?
Tarek Saad: Mein Wahlkreis ist sehr konservativ. Ich merke, dass die Menschen denken: “Sie sind gut
angekommen, Sie arbeiten hier, Sie sind gut integriert, Sie sind ein Vorbild – aber so weit
sollten Sie auch nicht kommen.” So rosa ist die Welt also nicht – die Aufnahmegesellschaft
hat ihre Grenze. Dieses “Von hier kommen oder hier geboren zu sein” spielt tatsächlich
eine größere Rolle als die politischen Inhalte.
Wobei Sie ja noch die Themen Integration, Einwanderung, Flucht verkörpern. Damit
kann man ohnehin nicht groß punkten, oder?

Ich erscheine im Wahlkampf nicht als Migrations- und Integrationspolitiker. Nee, ich
verkörpere alle Themen, zum Beispiel Infrastrukturpolitik, e-Mobilität, Windräder. Das sind
auch die Themen, die ich in der SPD bearbeite, nicht nur Migration und Integration.
Das kommt in deutschen Medien aber anders rüber.Ich habe keine Ahnung warum – die Presse will mich als Flüchtling verkaufen.
Warum sind Sie überhaupt in der SPD?
2014, als ich hier angekommen bin, war die SPD in der Landesregierung. Und sie hat
damals eine ganz gute Flüchtlingspolitik gemacht. Deswegen bin ich in die SPD
eingetreten. Ich habe nie erwartet, irgendwann einmal Landtagskandidat zu sein. In den
letzten acht Jahren hat sich das dann so entwickelt. Und ich wollte in eine Partei eintreten,
die die Möglichkeit hat, etwas zu verändern, die nicht klein ist – aber auch nicht die CDU.
Die CDU war für mich zu konservativ, ist sie immer noch. Blieb die SPD, die offener ist als
die CDU.
Sie erwähnten die “gute Flüchtlingspolitik”. Was war da gut?
Die SPD hat 2015 viele Unterkünfte in der Erstaufnahme organisiert, mehr als das Land
Schleswig-Holstein in der Verantwortung war. Und die SPD in Schleswig-Holstein hat
einen Abschiebestopp nach Afghanistan beschlossen. Das war für mich ein Zeichen für die
Freiheit. Daher dachte ich: Okay, wenn eine Partei so gegen die große Koalition rangeht,
das ist eine andere Nummer. Denn die SPD auf Bundesebene hat mit der de-Maizière-
und Seehofer-Union Ankerzentren eingeführt. Da war es auch nicht leicht, in der SPD zu
bleiben. Aber in Schleswig-Holstein haben die ganz gute Arbeit geleistet.
Die Themen, die Sie zuvor nannten, wären doch aber bei den Grünen besser
aufgehoben als in der SPD, oder?

Nicht unbedingt. Ich meine, wenn man diese Sachen vorantreiben möchte, dann ist das
nur möglich, wenn man nicht mit den Konservativen regiert. Zumindest hat sich die SPD
vorgenommen, nicht mit der CDU zu koalieren. Und bei den Grünen sehen wir: Wenn die
mit der CDU regieren, werden keine Windräder gebaut. In Schleswig-Holstein gab es 2017
exakt 2981 Windräder und 2022 sind es: 2981, also kein einziges Windrad mehr. Hier
merkt man: Wenn die Grünen regieren, bedeutet das nicht, dass solche Themen nach
vorne geschoben werden. Daher ist die SPD doch die richtige Partei.
Wie kommt das, dass Sie e-Mobilität so interessiert?
Ich sollte im Studium wissenschaftliche Arbeiten schreiben und wollte ein anderes Thema
als Migrationspolitik. Ich will nicht immer in diese Schublade gesteckt werden. Und
Klimapolitik und e-Mobilität fand ich sehr interessant. Auf das Auto wird man ja nicht
verzichten auf dem Land. Daher ist es eine wichtige Aufgabe, saubere Mobilität zu fördern.
Man könnte auch die Öffis ausbauen.
Wir müssen hier ehrlich sein: Wenn man in einem Dorf lebt, das ziemlich klein ist, können
wir den öffentlichen Nahverkehr nicht so stark machen, dass alle zehn Minuten ein Bus vor
der Tür steht.
In der “Zeit” haben Sie erwähnt, dass es schwierig ist, andere Syrerinnen und Syrer
von der SPD zu überzeugen. Gelingt es Ihnen?

Es ist hart. Stellen Sie sich vor, seit 40 Jahren ist es in Syrien so: Die ersten 15 Minuten
der Schule sind nur dazu da, um diesem Machthaber und dem Sozialismus Treue zu
schwören. Damit wächst man auf. Wenn man hier nun sagt, wir sind die soziale Partei
Deutschlands, dann fragen viele: Was heißt das auf Arabisch? Und dann kommt das
gleiche Wort raus. Das ist abschreckend, das merkt man am Gesicht. Und da muss man
sagen: Das hier ist anders, hier haben sie die Freiheit geschaffen, die Demokratie
mitgestaltet. Willy Brandt selbst war ein Flüchtling.
Dürfen überhaupt viele aus Syrien Geflüchtete wählen?
Jetzt langsam schon. Leute, die 2014/15 nach Deutschland gekommen sind, dürfen nun
die Einbürgerung beantragen. Und sie sind ja auch die Wähler der Zukunft. Ob sie aber in
Schleswig-Holstein in großen Massen den Pass beantragen? Die Behörden machen viel
Probleme, sie sind nicht in der Lage, in angemessener Zeit die Anträge zu bearbeiten.
Viele Syrer haben auch nicht die nötigen Dokumente. Es gibt verschiedene Hürden und
nicht alle schaffen es in sechs bis acht Jahren Deutsch zu lernen, Arbeit zu finden, ein
Studium zu absolvieren.
Wie geht es Ihnen damit, dass Geflüchtete aus der Ukraine selbstverständlich
aufgenommen werden, aber andere Geflüchtete immer noch in Belarus oder auf
griechischen Inseln stranden?

Es sei den Menschen, die aus der Ukraine kommen, gegönnt. Sie sind in der Not, wir
müssen helfen, egal woher sie kommen. Wenn aber ich an der Grenze stehe, werde ich
nicht reingelassen, obwohl ich auch aus dem Krieg geflohen bin. Es bleibt das Gefühl,
dass das nicht ganz gerecht ist.
Was bedeutet der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, für Syrien?
Ich glaube nicht, dass die Ukraine-Situation die Situation dort verbessert. Russland bleibt
in Syrien, es gibt ein Abkommen für den Hafen in Latakia und den Flughafen. Für
Russland ist Syrien unverzichtbar, denn das ist der letzte militärische Punkt im Nahen
Osten nachdem die Sowjetunion zerfallen ist. Komme, was wolle, will Russland das nicht
verlieren.
Wie geht es den Menschen in Syrien, auch mit Corona?
Es gibt kein Corona. Darüber wird nicht berichtet. Die Menschen kämpfen zuerst um ihre
Existenz, die sind nicht in der Lage über etwas anderes nachzudenken. Sie sind einfach
froh, wenn sie zwei Stunden am Tag Strom haben. Es wird über den Krieg in der Ukraine
so berichtet: Russland macht dort einen sehr guten Job und wir unterstützen Russland
dabei. Diese Propaganda wird in Syrien gemacht: Russland kämpft für uns alle gegen den
Westen.
Gibt es noch eine Opposition, die Chancen hat?
Die meisten sind weg im schlimmsten Sinn oder geflohen. Wenn noch Oppositionelle in
Syrien sind, haben die es schwer – lieber still bleiben.
Inwieweit kann man den Menschen in Syrien die Verantwortung für die Lage
zuschieben? Etliche fanden ja auch den IS ganz toll.

Die Radikalen hatten das meiste Geld. Sie hatten so viele Sachen dabei. Sie konnten sich
alles kaufen, was sie wollten. Und die jungen Menschen, die anfangs auf die Straße
gegangen sind, waren pleite. Deswegen wurde die Situation sehr schnell radikalisiert, aber
das war auch der Plan vom Machthaber. Es wurden 2012 ja viele radikale Menschen aus
dem politischen Gefängnis Saidnaiya freigelassen. Ich habe selbst erlebt, wie diese
Menschen die Führung im Norden Syriens übernommen haben, die Führung der Gruppen
der Rebellen. Damit gab es keine Alternative. Das war ein sehr schlauer Plan.
Aus einem Krieg kommend: Was sagen Sie zu den 100 Mrd. Euro, die es für die
Bundeswehr geben soll?

In den Parteibeschlüssen heißt es, dass wir weniger Rüstungsexporte wollen, dass die
SPD eine Friedenspartei ist. Aber aus meiner eigenen Erfahrung muss ich sagen:
Wenn man wirklich Frieden sichern will, muss man stark sein, um dem anderen nicht die
Möglichkeit zu geben, einen einfach anzugreifen. Denn die anderen denken nicht wie wir.
Was die große Koalition die letzten Jahre mit der Bundeswehr gemacht hat – vor allem die
Union, ist einfach schräg. Wir sind gerade nicht bereit, uns zu verteidigen. Mag sein, dass
ich innerhalb der SPD nicht immer beliebt bin, was dieses Thema angeht, aber es gehört
dazu, dass man in der Lage ist, sich zu verteidigen. Ich glaube, das ist der erste Schritt
zum Frieden.
Der Bundestag, die Wahl 2021, war keine Option für Sie?
Ich bin erst acht Jahre hier. Das ist auch für viele SPDler schnell gegangen. Ich bin im
Landesvorstand und es gab Widerstand. Was passiert erst, wenn ich für den Bundestag
antreten will? Es gibt diesen Gegenwind, diesen Druck nicht nur von außerhalb, sondern
auch innerhalb der SPD. Ich dachte, ich versuche es auf Landesebene, da ist auch die
Möglichkeit, Menschen vor Ort zu helfen, größer als in Berlin. Außerdem bin ich nicht so
präsent in den Medien wie Tareq Alaows, dachte ich.
Tareq Alaows kommt ebenfalls aus Syrien und wollte für die Grünen für den
Bundestag antreten. Nach Morddrohungen zog er seine Kandidatur zurück.

Neben Morddrohungen wurden die Fenster meines Autos nach einem Termin zerschlagen.
Plakate werden beschriftet mit “Raus” oder “In die Heimat schicken”. Ich habe mich also
geirrt: Im Wahlkampf auf Landesebene passiert mir nun das gleiche, das Tareq auf
Bundesebene passiert ist.

Erschienen in: Wiener Zeitung 05/2022

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