Altkanzler Kohl verstorben

Symbolträchtiger ging es kaum. Der in Deutschland wenig bekannte Luxemburger Jean-Claude Juncker wollte die EU-Wahl gewinnen, die Europäische Volkspartei hatte ihn zum Spitzenkandidaten nominiert. Und so stattete Juncker vor einem Jahr im Mai jenem Mann einen Besuch ab, der wie kein anderer für die deutsche Einheit steht und für ein Europa des Zusammenhalts – für ein Europa, in dem sich die konservativen Parteien nicht wie heute vor EU- und Euro-kritischen Parteien fürchten mussten: Helmut Kohl.

Es war einer der wenigen medienwirksamen Auftritte des Altkanzlers der letzten Zeit. Anders als der Sozialdemokrat Helmut Schmidt – bis 1982 sein unmittelbarer Vorgänger im Kanzleramt – hat sich Kohl in den vergangenen Jahren aus der Tagespolitik herausgehalten. Groß in Erscheinung getreten ist er zuletzt selten, darunter etwa im Herbst 2012 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Kohl war damals 82 Jahre alt. Die Christdemokraten feierten ihren CDU-Übervater. Dreißig Jahre zuvor war Kohl zum ersten Mal zum Kanzler gewählt worden. Sechzehn Jahre sollte er es bleiben. Tradition, Beständigkeit, Verlässlichkeit, glanzvolle Zeiten: Das war das Bild, das die CDU kurz vor dem Wahlkampf 2013 mit Kohl zeigen wollte.

Die dunklen Flecken in der Beziehung hatte man zuvor beiseite geschoben. Bis heute ist unklar, woher die bis zu 2 Mio. D-Mark an Parteispenden stammten, die in den 1990er Jahren in schwarzen Kassen gelandet waren. Kohl schwieg bis zuletzt – er habe schließlich den Spendern sein „Ehrenwort“ gegeben. Laut Gesetz hätte Kohl sprechen müssen. Ein Ermittlungsverfahren der Bonner Staatsanwaltschaft war wegen geringer Schuld eingestellt worden. Kohl musste 300.000 D-Mark Bußgeld zahlen. Es waren schwere Zeiten für die Konservativen. Die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel riet ihrer Partei im Dezember 1999 via „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“, sich von Kohl distanzieren. Dieser legte schließlich seinen Ehrenvorsitz zurück. Seither verband Kohl und Merkel nicht mehr viel. Bei der Feierstunde im Deutschen Historischen Museum aber saß die Kanzlerin freilich in erster Reihe und hielt eine Festrede auf Kohl, ihren Mentor.

Der Wahlsieger hatte die Ostdeutsche 1990 überraschend in seine Regierung geholt. Kohl – zum dritten Mal gewählt – wurde der erste Kanzler des geeinten Deutschlands. Seit 1973 war er bereits CDU-Vorsitzender. Schon als Schüler stand er den Christdemokraten nahe, in seiner Heimatstadt Ludwigshafen gründete er die Junge Union mit. In Frankfurt studierte Kohl Rechtswissenschaften und Geschichte, promovierte 1958 und wurde 1959 als Abgeordneter in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt. Hannelore Renner kannte er zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren. 1960 wurde geheiratet, die Söhne Walter und Peter kamen zur Welt und nach außen hin waren die Kohls eine nach konservativen Vorstellungen perfekte Familie. Berühmt sind die Fotos vom Urlaub in St. Gilgen: Heile Welt am Wolfgangsee. Die Familie schart sich glücklich um das Oberhaupt, auf einem anderen rudert Helmut seine Hannelore über das Wasser.

Wie sehr dieses Bild einer heilen Welt von der Realität abwich, wurde mit der Krankheit Hannelore Kohls deutlich. Stets hatte sie sich zurückgenommen und die perfekte, tadellose Kanzlergattin gespielt. Sie sagte Sätze wie „Es ist immer schön, nicht im Wege zu sein“ – und fühlte sich doch „mutterseelenallein“. Hannelore Kohl litt unter einer „Lichtallergie“. In den letzten Jahren war das Haus abgedunkelt und heruntergekühlt. Für Helmut Kohl war es, wie Weggefährten berichteten, nicht leicht, nachhause zu kommen. 2001 starb seine Frau. Zehn Jahre später schrieb Sohn Walter in seinem Buch „Leben oder gelebt werden: Schritte auf dem Weg zur Versöhnung“ über seinen Vater: „Wir liefen auf seiner politischen Bühne mit, als Teil des Bühnenbildes, aber ohne tragende Rolle.“ Helmut Kohls „Sinnen und Trachten rangierte weit vor der Familie und dem Privatleben“. Der Vater und seine Söhne hatten jahrelang keinen Kontakt zu einander. Von der Hochzeit Kohls mit der 34 Jahre jüngeren Maike Richter erfuhren sie per Telegramm: „Wir haben geheiratet.“ Besser informiert war die Boulevard-Zeitung „Bild“ – Chefredakteur Kai Diekmann war einer der Trauzeugen. „Als ich begann, mich Anfang der 1980er-Jahre für Politik zu interessieren, war Helmut Kohl die spannendste Persönlichkeit. Niemand war interessanter als er“, sagte Diekmann im Interview mit dem Onlinebranchendienst „Meedia“.

Die FDP hatte ihrem Koalitionspartner, den Sozialdemokraten unter Helmut Schmidt, ein „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vorgelegt. Die Empörung war groß, besonders unter den Gewerkschaften. Das Verhältnis zwischen FDP und SPD verschlechterte sich weiter. Schließlich kam der Bruch. Helmut Kohl trat an unter dem Motto „geistig-moralische Wende“. Kritiker aber befürchteten eine Rückkehr in die Zeit vor 1968.

Einmal in der Regierung, vermied Kohl das Wort „Wende“: Hans-Dietrich Genschers FDP war ja nach der Koalition mit der SPD nun Teil des Bündnisses mit der Union. So sprach Kohl von „Erneuerung“. Doch richtig klar wurde nicht, was Kohl damit meinte. Wollte er das Rad der Zeit zurück drehen, vor die Ära Willy Brandt? „Doch der, der tatsächlich die Türen aufgetreten, die Fenster aufgerissen und frische Luft ins Haus Bundesrepublik gelassen hatte, der war schon gar nicht mehr der Gegner von Kohl“, so der Publizist Friedrich Küppersbusch im „Deutschlandradio Kultur“.

Kohl war kein beliebter Kanzler, seine Umfragewerte waren mäßig. Aber Kohl war zäh, schlau und sehr gut vernetzt. Die einmal errungene Macht wollte er behalten. Seine Statur, groß und kräftig, unterstrich sein Ansinnen. Kohl wurde oft unterschätzt. In der Bundesrepublik erzählte man sich Witze über „die Birne“, wie der Kanzler genannt wurde. Kohl galt vielen als provinziell, engstirnig, miefig. Dass sich die Welt auch gesellschaftspolitisch weiterdrehe, ziehe an Kohl vorüber, sagten seine Kritiker. Für sie standen sein Leibgericht, Saumagen, und sein Häuschen in Oggersheim in Ludwigshafen symbolhaft für seinen Unwillen, über den Tellerrand zu schauen. Als einmal auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung Mitglieder der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend störten, rief er: „Das sind Leute, die alles bestreiten außer ihren Lebensunterhalt“, erinnert sich ein heute Mitte-40-Jähriger. Angela Merkel findet bei ähnlichen Aktionen weit lockerere, nettere, durchaus humorvolle Worte.

Mit „revolutionären Elementen“ habe der konservative Kanzler schlicht „ein Problem“ gehabt, sagte der Politologe Herfried Münkler, Autor von „Die Deutschen und ihre Mythen“, einmal in der „Zeit“. Monatelange Demonstrationen in der DDR waren dem Tag des Mauerfalls vorangegangen, der 9. November 1989 hätte zum Nationalfeiertag ausgerufen werden können. So wäre das Verdienst der Ostdeutschen hoch gehalten worden. Kohl aber wollte diesen Tag als einen Gründungsmythos seiner Bundesrepublik nicht zulassen.

Der Mauerfall brachte ihm die dritte Amtszeit. Die innere Einheit freilich verlangte Zeit – Kohl aber wollte nicht warten. „Die Schwierigkeiten wurden vollkommen unterschätzt“, schreibt der Historiker Gerhard A. Ritter in seinem Buch „Der Preis der deutschen Einheit“. Bedenken ob des Wechselkurses und Warnungen vor Massenpleiten und Massenarbeitslosigkeit prallten ab: Als Politiker müsse er politisch entscheiden, befand Kohl. Den Ostdeutschen versprach er „blühende Landschaften“. Frankreich und Großbritannien sahen eine Wiedervereinigung zunächst skeptisch bis ablehnend. Kohl aber ließ nicht locker.

Mit Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand verband ihn eine freundschaftliche Beziehung. Hand in Hand waren Kohl und Mitterrand 1984 in Verdun auf dem Soldatenfriedhof gestanden – eine Geste von großer Symbolkraft, die sich Kohl auch mit den USA vorstellte. Ausgesucht wurde dafür der Soldatenfriedhof in Bitburg für eine Kranzniederlegung im Rahmen des zweiten Besuchs von Ronald Reagan in Deutschland im Mai 1985. Es sollte gemeinsam der Toten gedacht werden, deutscher und US-amerikanischer Soldaten. Als bekannt wurde, dass auf dem Friedhof auch Angehörige der Waffen-SS lagen, forderte die breite Mehrheit des Repräsentantenhauses Reagan dazu auf, den Besuch in Bitburg zu unterlassen. Jüdische Organisationen protestierten gegen Reagans Vorhaben. Deutsche Intellektuelle waren über Kohl empört. Der Philosoph Jürgen Habermas schrieb in der „Zeit“ unter dem Titel „Die Entsorgung der Vergangenheit“: „Kohl wollte die Rückkehr zur deutschen Kontinuitäten.“ Unter der Überschrift „Des Kanzlers Doppelgesicht“ war, ebenfalls in der „Zeit“, zu lesen, Kohl tauche die Geschichte in ein „fernes Licht“, als könne man die Vergangenheit endlich ruhen lassen.

Jahre später macht Kohl Schlagzeilen, als er mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow – beide leger, Kohl in der Strickjacke über dem weißen Hemd – im Nordkaukasus spazierte und – so jedenfalls die Legende – der Weg bereitet wurde für eine Nato-Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands. Es war die letzte Hürde gewesen auf dem Weg zur Einheit.

„Ich habe nichts Besseres als auf die Deutsche Einheit stolz zu sein“, sagte er beim Festakt zum 20. Jahrestag des Mauerfalls.  Gestern, am 16. Juni 2017, ist Helmut Kohl 85-jährig in seinem Haus in Oggersheim gestorben.

Erschienen in: Wiener Zeitung, OÖN. 06/2017

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