Amazon: „Zwei Arme, zwei Füße, Kopf aus“

Zack – zack – zack, nächstes Buch aus der Kiste nehmen, scannen, Karton aus der Ablage ziehen, Buch darauf, zumachen, Barcode aufkleben, fertig. Herbert zählt die Packerl nicht, die er an einem Arbeitstag schafft. Seine Schicht im Verteilzentrum von Amazon, wo täglich hunderte Bestellungen zusammengesucht, verpackt und ausgeliefert werden, beginnt um 6.45 Uhr und geht bis 15.05 Uhr. Eine halbe Stunde Pause, dazwischen vielleicht einen Schluck Wasser trinken und aufs Klo. Ist er für die Nachtschicht eingeteilt, arbeitet er von 15.05 bis 23.25 Uhr. Den letzten Zug nach Hause bekommt Herbert immer, dafür haben Bayern und die Gemeinde Graben gesorgt: Das Verteilzentrum im Industriepark Graben, eine halbe Stunde mit der Bahn von Augsburg entfernt, hat seit zwei Jahren eine eigene Haltestelle. Während Herbert eine Bestellung nach der anderen verpackt, zeigt eine Koje weiter der Standortleiter einer Journalistengruppe im Zeitlupentempo, wie die Arbeit funktioniert. Martin Andersen ist ein sympathisch wirkender Mann, ein Däne, der seit mehreren Jahren bei Amazon arbeitet.

Links von Andersen rollt auf dem Förderband eine gelbe Kiste heran. Andersen nimmt beschwingt ein Buch heraus und demonstriert lächelnd das System. „Ein Profi macht das natürlich schneller“, sagt der Chef, den seine Mitarbeiter „Martin“ nennen und duzen – US-amerikanische Firmenpolitik. Alle paar Wochen arbeite er einige Tage lang im „Packing“ wie die Verpackungshalle heißt. Eigenes Büro habe er keines, es gebe ein Großraumbüro. Ansonsten finde man ihn in einer der Hallen.

Kurz vor Weihnachten lädt Amazon Journalisten ein, sich eines der neun Warenlager in Deutschland anzuschauen, sich selbst ein Bild zu machen von dem Versandhändler, der durchaus Imageprobleme hat: Der US-Konzern sträubt sich gegen Tariflöhne, wie die Kollektivvertragsvereinbarungen in Deutschland heißen, die Gewerkschaft spricht von einem unmenschlichen Arbeitsdruck, Autoren und Buchhändler protestieren und „Luxleak“ nennt Amazon als einen der Nutznießer des luxemburgischen Steuersystems.

„Schlechter Ruf?“, fragt Andersen und sagt: „Der Umsatz ist seit 1995 jedes Jahr gestiegen, das bestätigt doch ein Stück weit, dass das nicht alle glauben.“

Beim Rundgang durch das „Palettenland“ – eine Halle, in der die Bestseller gestapelt sind – ruft uns ein Mitarbeiter im Vorbeigehen wütend zu: „Glauben Sie ihm kein Wort!“ Schon ist er in der Halle mit ihren dutzenden Gängen und Mitarbeitern in orangefarbenen Warnwesten verschwunden, irgendwo sucht er mit seinem Wagen Bestellungen aus dem Lager zusammen. Er ist der Einzige an diesem Nachmittag, der ein böses Wort über seinen Arbeitgeber verliert. Sonst klagt oder schimpft niemand.

Eine Frau teilt unverpackte Bestellungen in Fächer, ein Fach pro Besteller. Neben, hinter und vor ihr machen andere das Gleiche. Mit den zugeordneten Bestellungen geht es in gelben Kisten auf das Förderband zu den Packern, vielleicht zu Herbert. „Was soll man Negatives sagen? Und vor allem die Älteren sind froh, dass sie einen Job gekriegt haben“, sagt die Frau. Die Bücher, Windeln, Piercingsteine, Playmobil-Figuren, DVDs, Hundefutterdosen, Jeans und Uhren sammeln vorher „Picker“ ein. Die Regalstraßen haben Nummern, die Mitarbeiter – „Amazonier“, wie Amazon sie nennt – schieben Wägen durch und sammeln ein, was ihnen ein kleines Gerät durchgibt. Auftrag sehen und merken, zügig suchen, nehmen, scannen, in die gelbe Kiste damit – und schon zeigt das Gerät den nächsten Auftrag an. Mehrere Kilometer – bis zu 15 sind erlaubt – legt ein Picker an einem Tag zurück.

„Der Picker pickt. Er weiß nicht wofür und für wen“, sagt Andersen. „Schauen Sie. Hier haben wir einen Profi“, sagt Andersen und zeigt auf einen jungen Mann in orangefarbener Warnweste und mit gelber Kiste und Wägelchen. Ganz zum Schluss werden die Pakete völlig automatisiert, ohne Mitarbeiter, noch einmal gewogen und mit der eigentlichen Bestellung verglichen.

„Wer zahlt denn heute noch Weihnachtsgeld?“

Das System bei Amazon ist perfekt durchdacht für Konzern und Kunden. Amazon verspricht rasche Lieferung und niedrige Preise. Schneller, billiger, praktischer – das habe aber seinen Preis, das müsse ja jemand bezahlen, sagt Verdi-Mitarbeiter Thomas Gürlebeck. Neben den Herstellern seien das natürlich die Mitarbeiter. In den vergangenen Monaten rief Verdi an den deutschen Amazon-Standorten mehrmals zu Streiks auf, so wie jetzt. Das Motto: „Weihnachten steht vor der Tür, wir auch.“ Die bisherigen Streiks hätten bereits Positives bewirkt.

Verdi fordert unter anderem, dass Amazon die Stundenlöhne des Einzel- und Versandhandels zahlt statt jene der Logistikbranche. Die Gewerkschaft sorgt sich zudem, dass viele oder gar alle der 450, zum Teil seit knapp zwei Jahren befristet Beschäftigten mit Jahresanfang keinen dauerhaften Vertrag bekommen. Die Standortleitung sagt, sie wisse auch jetzt nicht, ob oder wie viele Mitarbeiter übernommen werden. Verdi fürchtet, dass Amazon einfach neues befristetes Personal einstellen wird und so Kosten spart.

Bei Lidl und Aldi gehe es sicher schlechter zu, dort gebe es weniger Lohn und schlechtere Arbeitszeiten, heißt es vom Betriebsrat. Die Stimmung in der Belegschaft sei geteilt, viele seien aber so weit zufrieden. Jeder fühle natürlich anders, aber die Dienstleistungsgewerkschaft übertreibe „maßlos“. Verdi habe eben eine Mission, ja, „berechtigtes Interesse“ daran, dass Amazon Tariflöhne zahle. Diese würden schließlich auch viele tarifgebundene Einzelhändler zahlen und somit im Wettbewerbsnachteil sein. Aber dennoch: Das Bild, das die Gewerkschaft zeichne, stimme nicht. Verdi gehe es eben auch darum, Macht zu behalten – die Gewerkschaft habe schließlich deutschlandweit stark an Mitgliedern verloren. Aber wäre ein Tarifvertrag nicht trotzdem besser? „Es gäbe ein paar Urlaubstage mehr. Weihnachtsgeld. Aber wer zahlt denn heute schon noch Weihnachtsgeld?“

Für die Gewerkschaft muss das ein Schlag in den Magen sein. Die Zeiten ändern sich. Mehr Geld, mehr Urlaub, Kreativität, Aufstieg – von dieser Vorstellung dürften sich immer mehr Menschen verabschieden. Nicht nur in der Region Graben ist man froh, zunächst einmal überhaupt Arbeit zu haben. Dazu kommt, dass etlichen Mitarbeitern dauerndes Draufhauen auf ihren Arbeitgeber nicht gefällt. Wer arbeitet schon gern für jemanden, den andere nicht gut finden? Das weiß Amazon und arbeitet an seinem Ruf. Besonders unter den Jungen habe Amazon ja sogar ein „cooles“ Image, sagt Gürlebeck. „So wie Apple. Man ist Teil von etwas Großem.“ Dabei gehe es doch auch um die Frage, was gute Arbeit sei. Amazon erziehe seine Mitarbeiter zum Nichtdenken.

Die Arbeit sei in Ordnung, Arbeit eben, am Abend sei man natürlich müde, sagt ein Mitarbeiter. Man schalte den Kopf aus, während man die immer gleichen Handgriffe ausführe. „Zwei Arme und zwei Füße“, mehr brauche man nicht. Der Rundgang durch die Hallen ist zu Ende. „Haben Sie psychischen Druck gespürt?“, fragt Andersen. „Ich stelle keinen fest und ich bin hier jeden Tag zehn bis zwölf Stunden.“

„Martin ist immer am Lächeln, immer freundlich“, sagt einer der Mitarbeiter im Zug zurück nach Augsburg. Seine Frau arbeitet als Picker, ein befristeter Vertrag, aber das sei ihr klar. Sie wisse, dass sie Anfang des Jahres ohne Job dastehen könne. „Sie sagt, es ist nicht kalt. Man wird nicht angeschrien, man wird nicht belästigt. Und das Geld ist nicht das schlechteste.“

Erschienen in: Salzburger Nachrichten, OÖNachrichten, Wiener Zeitung

Erschienen am: 12/2014

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