Auf den Nähekomplex

Durch die Wohnung tönt Tristan und Isolde. Auf dem Schreibtisch, dem Boden, dem Sofa, auf dem Couchtisch, dem Sessel, überall Zettelhaufen, Zeitungs- und Zeitschriftenberge, Bücherstapel. L. kommt aus der Küche zurück mit Apfelkuchen. Er nimmt einen der Stapel vom Sofa, setzt sich neben mich, gibt mir einen Teller, gießt Rotwein in die Gläser. Ich klappe das Charlotte-Roche-Interview zu und lege den Playboy zurück auf einen der Haufen.

„Auf den Nähekomplex!“, sagt L. und stößt mit mir an. Ich frage nach der Frau. L. stöhnt: „Hat die Stadt verlassen.“ Dann deutet er mir, aufmerksam zu sein: Tristan schmettert gefühlte zehn Minuten lang denselben Ton. „Das Schweigen ist der Schlüssel“, fällt mir ein Satz ein, den ich kürzlich gelesen habe. „Welcher Idiot war’n das?“, fragt L. „Mudhoney-Sänger“, antworte ich. L. schüttelt den Kopf: „Ach dieser ganze Scheiß“, sagt er und brummelt etwas vom Guten, Wahren und Schönen, dann von seinen Textbergen, die er zu schreiben hinterhinke, von dem Unvermögen der Menschen, ihre Gefühle mitzuteilen, und schließlich, deutlich lauter: „Diese blöde Trulla! Meldet sich nicht. Nur eine bescheuerte SMS. Haut einfach ab.“

Ich erzähle von jenem Abend im Monarch, an dem ich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren Tischfußball gespielt habe: nur zwei Eigentore. L. lächelt jetzt doch ein wenig und nimmt mich in den Arm.

Dann steht er auf und kramt nach einer anderen CD. „Oh, glückliche Epoche!“, ruft er aus. L. hält mir „Hits der 70er“ entgegen, sponsored by Lufthansa, und sagt: „Man darf sich von YMCA nicht ins Bockshorn jagen lassen.“ Dann hören wir statt Richard Wagner Stevie Wonder: I was made to love her.

Erschienen in: taz (berliner szenen), 07/2008

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