Andreas Bechdolf: „Du bist kein Vollidiot, wenn du Stimmen hörst“

Die meisten psychotischen Erkrankungen brechen bereits im jungen Erwachsenenalter aus. Je eher in diesen Fällen therapiert wird, desto besser sind die Heilungschancen, sagt Andreas Bechdolf. Der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik im Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg eröffnete kürzlich ein Frühinterventionszentrum für junge Erwachsene mit Psychose.

Herr Bechdolf, wieso brauchen junge Erwachsene mit Psychose eine eigene Station?

Andreas Bechdolf: Auf der normalen psychiatrischen Station sind viele Patienten, die keinen günstigen Krankheitsverlauf haben. Wenn ein junger Patient neben einem 50-Jährigen liegt, der zum 17. Mal im Krankenhaus ist, liegt der Schluss für ihn nahe: „Die kriegen hier eh nix hin.“ Deshalb wollen wir mit unserer neuen Station ein optimistisches Setting bieten. Wir fangen bei 18 Jahren an, kooperieren aber mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Wann sollte man über die Einweisung in Ihre Station nachdenken?

Lehrer oder Chefs sollten sich möglichst frühzeitig an uns wenden, wenn sie merken, dass sich ein junger Mensch zurückzieht, seine Rolle als Schüler oder Lehrling nicht mehr ausfüllen kann. Drei Viertel der Betroffenen haben nämlich Frühsymptome, schon Jahre vor Ausbruch einer Psychose: Sie können sich schlecht konzentrieren, sind ängstlich, merken sich Dinge schlechter. Leider ist es bislang so, dass Patienten im Durchschnitt bereits ein Jahr lang psychotische Symptome haben, bevor sie mit dem Gesundheitssystem in Berührung kommen.

Auch, weil sich die Betroffenen schämen?

Ja, man zieht sich zurück und wird als faul und unsozial wahrgenommen.

Wie verläuft eine psychotische Krise?

Die Patienten haben akustische Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, fühlen sich verfolgt oder bringen Dinge, die zufällig passieren, in pathologischer Weise mit sich in eine Beziehung. Ein Beispiel: Die Ampel springt von Grün auf Rot und das bedeutet für den Betroffenen: „Geh diesen Lebensweg nicht weiter“. Eine weitere Gruppe psychotischer Störungen sind die Ich-Störungen. Patienten haben den Eindruck, dass ihnen fremde Gedanken eingegeben werden, dass sie nicht mehr Herr ihrere eigenen Gedanken sind oder, dass andere Menschen ihre Gedanken lesen können. Je mehr psychotische Episoden auftreten, desto ungünstiger ist das für den Krankheitsverlauf.

Wie entstehen Psychosen?

Zu einer Psychose kommt es, wenn verschiedene biologische und psychosoziale Faktoren zusammenkommen. Personen können ein hohes genetische Risiko haben oder in einer sehr schwierigen Lebenssituation sein, je höher diese beiden Belastungen, desto höher ist das Risiko, eine Psychose zu entwickeln. Risikofaktoren sind etwa Urbanität – Leben im Ballungsraum –, Migration, Substanzmissbrauch.

Welche Rolle spielt Cannabis dabei, eine Psychose zu entwickeln?

Wirklich gefährlich ist Cannabis-Konsum, wenn man frühzeitig anfängt, also vor dem 15. Lebensjahr. Denn das Gehirn wächst noch sehr lange. Die Entwicklung würde also gestört werden und das Risiko, eine Psychose zu bekommen, zunehmen. Kifft man vor dem 15. Lebensjahr und später regelmäßig, ist das Risiko, eine Psychose zu entwickeln, um das drei- bis fünffache erhöht. Einzelne können mitunter viel konsumieren, ohne Schaden zu nehmen. Das weiß man aber vorher nie.

Wo ist die Grenze zwischen übersteigerter Angst und Psychose?

Wahn beginnt, wo man trotz gegenteiliger Beweise an einer Überzeugung festhält. Menschen mit einer Angststörung wissen mit einem gewissem Abstand, dass die Angst eigentlich überzogen ist. Auch bei der Entwicklung von Wahnsymptomen haben die Betroffenen zu bestimmten Zeiten Zweifel an ihrer Überzeugung.

Haben die Betroffenen einer psychotischen Krise Einsicht in ihre Krankheit?

Die jungen Patienten haben häufig noch einen gesunden Anteil und wissen, dass es ungewöhnlich ist, zum Beispiel Stimmen zu hören. Andererseits sollen sie autonom und Teil einer Peer-Group sein, eigene Haltungen, Berufsvorstellungen entwickeln. Man ist vielleicht gerade erst nach Berlin gezogen, möchte sich in einem neuen Umfeld beweisen. Dann aber ist man mit diesen Symptomen konfrontiert. Man verliert den Mut. Die Betroffenen erleben also eine Psychose, aber sagen dann: „Die Ärzte spinnen, die reden mir das ein.“ Andere neigen zu Selbststigmatisierung: „Wenn ich Stimmen höre, bin ich ein Vollidiot und kriege nichts mehr zustande. Da schaue ich doch lieber, dass das irgendwie von selbst weggeht.“ Man sucht sich keine Hilfe. Auch Lehrer oder Vorgesetzte „labeln“ falsch. Solche Verhaltensweisen münden aber in der Katastrophe. Der Betroffene verliert letztendlich die Kontrolle, wirkt auffallend, kommt möglicherweise gegen den eigenen Willen ins Krankenhaus.

Besteht nicht tatsächlich die Gefahr, dass junge Menschen, die vielleicht nur vorübergehend durcheinander sind, mit der Diagnose Schizophrenie für ihr Leben stigmatisiert werden?

Wir bevorzugen deshalb den Begriff „psychotische Krise“. Damit unterstreichen wir, dass die erste Episode in der Regel ausheilt, auch durch eigenes Zutun. Außderdem können psychotische Sympotome auch bei verschiedenen anderen Krisen vorkommen.

Viele wissen nicht, was einen in der Psychiatrie erwartet, nach wie vor gibt es das Stigma, als „Verrückter“ zu gelten, gibt es nach wie vor. Welche Rolle spielt die Schwellenangst?

Es gibt viele Vorurteile wie „Einmal dort und ein Leben lang in der Psychiatrie“. Dabei liegt die Verweildauer in der Psychiatrie in Deutschland bei 23 Tagen, bei Psychosekrankten bei 20 bis 40 Tagen.

Was passiert während des Aufenthalts?

Man lernt sich erst einmal kennen, spricht über die Symptome, es gibt regelmäßige Einzelkontakte mit Ärzten, Psychologen, dem Pflegepersonal. Die Patienten lernen, dass es einen phasenhaften Verlauf gibt, den man mit Therapie und Medikamenten gut beeinflussen kann. Häufig ist es so, dass die Patienten den Anschluss zu vielen Fertigkeiten verloren haben, Misserfolge verbuchten. Deshalb geht es auch darum, mit Sport und kreativen Dingen wieder Lebensmut zu fassen. Wichtig ist es auch, sich mit anderen Betroffenen über das, was man erlebt hat, auszutauschen und so die Selbstabwertung zu reduzieren. Es ist ja eine Riesenerleichterung zu merken, dass man nicht alleine betroffen ist.

In diesem Lebensabschnitt ist das Verhältnis zu den Eltern ohnehin oft nicht ganz einfach. Ist es sinnvoll, Angehörige in die Behandlung einzubeziehen?

Wir machen jedenfalls ein sehr intensives Angebot für Angehörige, die oft auch sehr verunsichert sind. Angehörige sind durchaus wichtig in der Behandlung. Wir erstellen beispielsweise einen Krisenplan mit den Patienten: Was macht man, wenn die Symptome wieder auftauchen, von wem kann ich eine divergente Meinung zu meiner eigenen akzeptieren – das ist ganz wichtiger Punkt. Denn der Kern der Psychose ist ja, dass ich eine Meinung vertrete, die im Gegensatz zu meinem sozialen Umfeld ist. Der übliche Mechanismus ist: Der Überbringer der Botschaft wird abgewertet. Das überhaupt erst mal zu sehen, ist für die jungen Leute ein neues Thema. Werden Angehörige oder Vertrauenspersonen einbezogen, ist es leichter, Episoden zu verhindern. Denn mehr Augen sehen eher Symptome und Veränderungen.

Wie sieht die Therapie aus?

Besonders bei den erstmals Erkrankten spielt Psychotherapie eine wichtige Rolle, um den gesunden Anteil zu stärken. Wir wollen die Patienten unterstützen, auch indem wir sagen: „Du hast zwar eine schlimme Erfahrung gemacht, aber das heißt nicht, dass deine Zukunft dahin ist. Wenn du mit unserem Team in Kontakt bleibst, deine Medikamente nimmst, dann kannst du deine Ziele erreichen.“

Ohne Medikamente geht es nicht?

Einem überwiegenden Teil der Ersterkrankten mit Psychose empfehlen wir, über ein bis zwei Jahre lang vorbeugend eine antipsychotische Medikation zu nehmen. Wenn man in dieser Zeit eine neue Episode verhindert, verbessert dies die Prognose für die Gesamterkrankung um ein Vielfaches. Das Hören von Stimmen etwa verschwindet in der Regel bei 80 Prozent der Patienten. Leider nehmen viele ihre Medikamente nicht wie geplant ein.

Haben sie Angst vor Nebenwirkungen?

Leider herrschen schlimmste Vorurteile gegenüber psychiatrischer Medikation. Dabei reduzieren die Medikamente erheblich das Risiko, dass ein Patient, der bereits eine Episode erlebt hat, eine weitere Episode entwickelt. Natürlich muss dabei immer eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Dabei achten wir auf eine niedrige Dosierung, die Wahl eines individuell verträglichen Präperates und einen Kontakt auf Augenhöhe mit den Betroffenen. Häufig sind es auch nur ganz alltägliche Probleme, die die Einnahme der Medikamente verhindern.

Inwiefern?

Der Großteil der psychotischen Ersterkrankungen tritt zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr auf. In dieser Phase hat man aber andere Sorgen, als daran zu denken, morgens seine Pillen zu nehmen. In Großbritannien und in Australien gibt es spezielle Teams, die sich um junge Patienten mit Psychosen kümmern. Kommt der Patient nicht zum Termin, fährt man hin, ruft an. Man hält den Kontakt. In unserem Frühinterventionszentrum gibt es auch ein eigenes Team, das die Patienten nach dem stationären Aufenthalt weiterhin ambulant betreut. Wir wollen, dass die Beziehung, die in der Krise geschaffen wurde, im Alltagsleben fortgesetzt wird.

Wie groß ist die Chance, dass ein schizophrener junger Mensch ein selbständiges Leben führen wird?

Selbst in unserem aktuellen System mit seinen späten Interventionen leben 90 Prozent der Betroffenen selbständig außerhalb von Wohnheimen oder Krankenhäusern. Die Frühintervention kann soziale Beziehungen und die Teilhabe am Arbeitsleben noch wesentlich verbessern und die Zahl der Krankenhausaufenthalte weiter reduzieren.

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung und OÖNachrichten

Datum: 12/2013

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