Berlin-Wahl: „Yuppiepack verpiss dich aus Neukölln“

Es ist Nacht. In der U-Bahn-Station stinkt es nach Urin. Oben auf dem Hermannplatz steht eine Toilette, ein kleiner, ovaler Metallbau. Die Tür ist offen. Im Neonlicht sieht man einen Mann und eine Frau – wahrscheinlich Drogensüchtige. Junkies und Alkoholiker gibt es viele auf dem Hermannplatz. Es ist nicht besonders hübsch hier. Auf einer Seite steht das große, graue Gebäude der Warenhauskette Karstadt. Das ist noch Kreuzberg. McDonalds, Dunkin Donuts und Handyläden sind auf der anderen Seite: Neukölln. Autos rasen vorbei, auf den Straßen hier zeigt man, was der neue Mercedes und der fette SUV hergeben.

Vom Hermannplatz weg führt die Sonnenalle Richtung Südosten. Hier gibt es Wettbüros, arabische Schnellimbisse, Modeläden mit üppig-glitzernden Hochzeitskleidern, türkische Bäcker und Elektrogeschäfte. Alles wirkt mehr oder weniger brüchig – wie in ganz Nord-Neukölln: Viele der alten Häuser – teilweise mit Stuck – sehen ungepflegt aus, die Gehwege sind genauso sanierungsbedürftig wie das Kopfsteinpflaster der Seitenstraßen. Kaputte Fernsehgeräte und alte Matratzen liegen auf den Gehsteigen, es gibt viel Hundekot. Vor dem Café Um Khalthum sitzen vier Männer in einer Reihe und rauchen Wasserpfeife. Ein paar Meter weiter der Kosmetiksalon Schmidt („Manicuere und Pedicuere“) und „City Chicken“, wo sich von früh bis spät die aufgespießten Hühner im Kreis drehen. „Unheimlich lecker und sehr arabisch, quirlig und hektisch“ sei es hier, schrieb das Stadtmagazin „Zitty“.

Aufgedonnerte junge Frauen in Röhrenjeans und engen T-Shirts, dick geschminkt und mit Kopftuch spazieren auf der Straße. Parallel zur Sonnenalle, in der Weserstraße, stehen viele junge Menschen vorm „Ä“, eine der beliebtesten Kneipen im Kiez, wie Grätzel in Berlin heißt: Oma-Möbel, Tischfußball, preiswertes Flaschenbier, heruntergekommene Wände. Das „Ä“ eröffnete als eines der ersten Alternativlokale in Nordneukölln und wurde schnell berühmt, auch bei den jungen Touristen. Andere Kneipen folgten. Allein im vergangenen Jahr sind mindestens fünf neue im Umkreis des „Ä“ dazugekommen. Ihre Einrichtungen sind ähnlich – und alle sind sie gut besucht, und zwar an jedem Abend in der Woche. Viele werden von Menschen betrieben, denen es offensichtlich nicht nur ums Geldmachen geht: Man schenkt einen Schluck Wein zum Probieren ein, bietet Bier aus kleinen Brauereien in Deutschland an und plaudert mit den Gästen an der Theke. Ein paar Meter weiter spielt die Besitzerin des Ladens für Hüte aus Plastikgabeln oder Lametta auf einer singenden Säge. Berlin, das ist für viele die Stadt der niedrigen Mieten, der vielen kleinen Geschäfte, des Improvisierens und Ausprobierens. Heute bekommt man dieses Bild von der Stadt am besten im einstigen West-Bezirk Neukölln mit. Die Zeiten, in denen man im früheren Ost-Bezirk Mitte in den heruntergekommenen Altbauten feierte und Kunst machte, sind lang vorbei. Mitte ist heute ordentlich und gepflegt, die Gebäude sind saniert, wohnen ist dort vergleichsweise teuer. Ähnlich ist es in Prenzlauer Berg, ebenfalls einst Ost-Berlin.

In Neukölln also sind Veränderungen derzeit am deutlichsten zu sehen. Und sichtbar sind hier auch beinahe alle Probleme, die Berlin gerade hat: Die Stadt ist mit 63 Mrd. Euro verschuldet. Jedes dritte Kind lebt in einem Haushalt, das das Langzeitarbeitslosengeld Hartz-IV bezieht. 17 Prozent der Viereinhalbjährigen in Berliner Kindergärten sprechen schlecht Deutsch und müssten gesondert gefördert werden – wobei immer mehr Kinder mit Deutsch als Muttersprache Defizite haben. Vor allem ein Problem aber zieht sich durch fast alles Stadtteile: Steigende Mieten. Die Lage sei ähnlich wie in Neukölln, nur auf höherem Niveau, sagt Ansgar Gusy von den Grünen in Charlottenburg. „Es gibt einen verstärkten Wohnungskauf von Investoren. Das bringt Druck auf die Mieten.“ „Yuppiepack verpiss dich aus Neukölln“ hat jemand auf die Hauswand des Ä gesprayt. Neukölln ist attraktiv geworden, für Wohnungssuchende und damit für Investoren. Die Mieten sind meist deutlich niedriger als in den beliebten Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg. Sie steigen aber auch hier.

„Gegen Aufwertung und Verdrängung“ und „Mieten runter, Löhne rauf“, stand bis vor kurzem auf Transparenten, die an einer Fassade wenige Meter entfernt in der Weichselstraße hingen, gleich ums Eck vom bezaubernden Kanal mit den alten Bäumen. Am Wochenende trifft man dort am Wasser mittlerweile auffallend viele Spaziergänger zwischen Mitte zwanzig und Anfang vierzig. „Wir bleiben alle“ hängt nun an dem Haus. Es hat neue Eigentümer, die es modernisieren wollen – die Bewohner fürchten, ausziehen zu müssen, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. „Wohnraum für Alle! Statt Edelkiez“ hat jemand in der Herrfurthstraße auf eine Hauswand geschrieben. Ein paar Meter weiter schließt der Hausverwalter eine Wohnung auf. Es riecht nach frischer Farbe: Vor der Renovierung habe es hier ausgesehen, man könne sich das gar nicht vorstellen. Aber schön langsam würden die Langzeitarbeitslosen in der Umgebung weniger, die könnten sich die Mieten nicht mehr leisten.

Aus dem einstigen Arbeiterbezirk Neukölln wurde ein Arbeitslosenbezirk. Nach der Wende lief die Berlinförderung aus, Industriebetriebe wanderten ab. Die Grüne Spitzenkandidatin Renate Künast sagt, jeder dritte Arbeitsplatz in Berlin sei „prekär“, man müsse „fair bezahlte, dauerhafte Jobs im wenig qualifizierten Bereich“ schaffen. Der amtierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verweist darauf, dass die Regierung die Arbeitslosenquote „von 20 Prozent Schritt für Schritt gesenkt“ habe. Im August betrug sie 13,3 Prozent. Nach der Wahl am Sonntag dürften Sozialdemokraten und Grüne eine Regierung bilden – man habe die größten Überschneidungen, heißt es von beiden Seiten.

Dass sich „gekippte Viertel“ wandeln und belebter werden, finden Wowereit und Künast gut. Beide treten aber auch für ein „Korrektiv“ ein, nämlich für zusätzlich tausende Wohnungen im Landeseigentum. Diese sollen auf den Markt „dämpfend“ wirken. Künast fordert außerdem eine „Modernisierung in Stufen“: Maßnahmen wie Wärmedämmung, ordentliche Fenster und moderne Heizungen seien gut fürs Klima und letztlich für den Geldbeutel. Von Fall zu Fall müsse entschieden werden, was sinnvoll sei, damit die Miete nicht „hochgeht“.

„Die Mischung der Bewohner in Neukölln ist heute schöner als früher“, sagt Hanadi Mourad. Doch eine neue Wohnung zu finden, sei wirklich schwierig. Auch Mourad ist auf Suche. Mit ihrer Familie braucht sie mehr Platz. „Ich will aber nicht nach Gropiusstadt“, sagt sie. Der Sozialbaukomplex, eine Trabantenstadt in Neukölln, hat keinen guten Ruf. Doch was tun, wenn man sonst keine leistbare Wohnung findet – oder, wenn man keine bekommt, weil man ein Kopftuch trägt, einen arabischen Namen hat und es auch genügend deutschstämmige Bewerber gibt?

Mourad ist vor zwanzig Jahren als Flüchtling aus dem Libanon gekommen. Heute ist sie „Stadtteilmutter“, eine Brückenbauerin zwischen den Kulturen: Mourad unterstützt andere Mütter im täglichen Leben, hilft bei Schulproblemen und bei der Suche nach Deutschkursen und gibt Tipps beim Thema gesunde Ernährung. Gefördert wird das Projekt vom Arbeitsamt, dem Bezirk und der Diakonie.

Der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) sagt, in ein paar Jahren könnte Neukölln wie der Londoner Stadtteil Brixton sein. Dort könne man sehen, was passiere, wenn man eine „nicht-integrierte Bevölkerungsschicht“ entstehen lasse, die für sich selbst keine Chance sehe. Vom umstrittenen Autor des Buches „Deutschland schafft sich ab“, Thilo Sarrazin, hat sich Buschkowsky einen Teil des Wahlkampfs finanzieren lassen. Für viele ist Buschkowsky ein „Provinzpopulist“, der in seiner Kolumne in der Bildzeitung gern provoziert. Andere sind froh, dass „endlich ein Politiker Probleme ausspricht“.

Auf der Sonnenalle in „Simone´s Biergaststätte“, die bis vor kurzem noch „Simone´s Bier und Speisegaststätte hieß“, trinken am frühen Nachmittag fünf ältere Männer und zwei Frauen Bier. Das Flensburger kostet hier 1,50 Euro. Hat sich in Neukölln viel verändert in den letzten Jahren? „Ja“, dröhnt es durch den Raum. „Die Landessprache!“ Die Männer lachen. „Und die Alternativszene wird größer“, sagt einer. „Die machen immer schön Krach.“ Wen sie wählen werden? „Ungültig“, sagt eine Frau. Man werde ja doch nur enttäuscht und belogen von den Parteien. „Rot oder Grün“, sagt der Mann neben ihr. „Ich bin ein Arbeiterkind. Und Wowereit ist charmant. Künast ist mehr Brain und Inhalt.“

Erschienen in: Wiener Zeitung

Datum: 09/2011

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