Der Wind weht eisig – Berliner, Geflüchtete und der Anschlag

Es ist ruhig – und das ist außergewöhnlich. Normalerweise ist die Gegend um die Berliner Gedächtniskirche voll mit Menschen, Autos und Bussen. Der Kurfürstendamm zählt zu den bekanntesten Orten Berlins: Ein Laden reiht sich an den nächsten, auch das berühmte Kaufhaus des Westens befindet sich hier. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es den Boulevard; der Breitscheidplatz mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche liegt unmittelbar daneben. Der neuromanische Bau wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Man sieht heute noch die Turmruine. Die Kirche gilt als Mahnmal für den Frieden.

„Ich bin geschockt“, sagt ein Berliner um die 70. Er ist am Dienstagvormittag gemeinsam mit seiner Bekannten zum Breitscheidplatz gekommen. Die Polizei hat die Fläche weiträumig abgesperrt. Hinter der Absperrung sieht man die Kirche im Nebel, Christbäume mit bunten Kugeln –  und eine zerstörte Hütte des Weihnachtsmarkts. Am Montagabend um kurz nach acht Uhr fuhr ein LKW in den Markt hinein und tötete zwölf Menschen. Die Behörden gehen von einem Anschlag aus.

„Da ist eine große Spannung innen drinnen“, sagt der Mann, seine Bekannte nickt. „Ich versuche, das alles auszuschalten.“ Man müsse Weihnachtsmärkte besser sichern, mit viel mehr Polizei und mit Hindernissen für Fahrzeuge. „Aber viel hätten die ja hier nicht machen können“, sagt der Mann und schaut zum abgesperrten Markt. „Ist ja alles auf engstem Raum hier.“ „Dann darf man auf solchen Plätzen keine Weihnachtsmärkte betreiben“, findet seine Bekannte, eine Brandenburgerin Mitte 60, die einige Tage in Berlin verbringt und sich auf den Besuch von Weihnachtsmärkten gefreut hat, wie sie sagt.

Beide loben die Polizeiarbeit der vergangenen Stunden. Man sei schnell vor Ort gewesen, ruhig geblieben und habe die Menschen aufgefordert, keine Gerüchte zu verbreiten. „Ich war ja gestern vor dem Anschlag auch noch hier, hab mir gebratene Mandeln gekauft“, sagt der Mann. „Jetzt guckt man nochmals extra rechts und links.“

Die Tat soll – so jedenfalls ist der Stand der Dinge am Dienstagvormittag – ein Flüchtling aus Pakistan begangen haben, der im Februar nach Deutschland gekommen ist. Würde sich das auf ihre politische Einstellung auswirken? „Nein“, sagt die Frau bestimmt. „So viele müssen flüchten. Dass dann da auch schwarze Schafe drunter sind, ist schlimm. Aber ich bin froh, dass ich hier lebe und wir können Menschen aufnehmen. Wir haben genug auch für sie.“

Der Anschlag ist auch unter den Geflüchteten in Berlin ein großes Thema. Viele bekunden auf Facebook und im persönlichen Gespräch ihr Beileid. „Ich bin traurig“, sagt Abdollah aus Afghanistan. „Hoffentlich war es kein Flüchtling.“ Auch ein aus Syrien geflüchteter Mann sagt: „Das wäre schlimm. Es würde auf uns alle zurückfallen. Viele Menschen würden nicht mehr differenzieren und in allen Flüchtlingen nur noch potenzielle Terroristen sehen.“

Einige Wochen lang hat der syrische Mann dort gewohnt, wo auch der pakistanische Flüchtling untergebracht gewesen sein soll, in der Notunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof. Weit mehr als 1.000 Menschen leben hier. Es ist Berlins größtes Flüchtlingsheim. Der Wind weht eisig über das Gelände. Hinein kommt man hier nicht einfach so. Das dient der Sicherheit und der Privatsphäre. Doch am Dienstag ist man noch strikter. Auch das Café, von einer Flüchtlingsinitiative ins Leben gerufen, ist heute geschlossen. Um drei Uhr nachts durchsuchte die Polizei „Hangar 6“ der Unterkunft. Dutzende Beamte der Spezialeinheit (SEK) waren bis morgens um acht Uhr vor Ort.

Ein Stück vom Eingang in die Flughalle entfernt berichtet ein junger Flüchtling, dass er glücklicherweise von der Razzia nichts mitbekommen habe. Er sieht verschreckt aus. Als er weitererzählen will, steht plötzlich ein Mitarbeiter des Wachpersonals vor uns und droht mit der Polizei. Der junge Mann läuft schnell ins Haus.

Unterdessen heißt es von Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt und Generalbundesanwalt Peter Frank, dass es Zweifel gebe, ob der noch Montagnacht festgenommene Pakistaner der Täter sei. Möglicherweise gebe es eine Tätergruppe, möglicherweise gehöre der Mann dazu.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) kündigt jedenfalls eine „deutlich erhöhte Polizeipräsenz“ in der Stadt an. Die Betreiber der Berliner Weihnachtsmärkte bittet er, die Märkte am Dienstag zu schließen oder gar nicht erst zu öffnen – dies allerdings aus „Pietätsgründen“.

Am späten Vormittag hatte der Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt im Stadtzentrum noch geöffnet. Es sei allerdings deutlich weniger los als an den anderen Tagen zur gleichen Zeit, sagt der Aufseher am Eingang und bittet, einen Blick in die Tasche werfen zu können. Ebenfalls am Eingang stehen zwei Polizisten. Bisher seien Kollegen vor allem wegen möglicher Taschendiebe im Einsatz gewesen, sagt einer der Beamten. Seit heute sei die Einsatzhundertschaft abgestellt, die bei größeren Veranstaltungen wie Fußballspielen oder Demonstrationen vor Ort ist.

Ein Paar aus Holland spaziert vorbei in den Mark hinein. Angst habe man keine, sagt die Frau. Der Anschlag sei aber „natürlich schrecklich.“

In der Nähe des Tatorts – der etwa 30 Minuten mit der U-Bahn vom Stadtzentrum entfernt ist – sieht das ein Tourist aus Griechenland anders. Sein Hotel liege gleich um die Ecke. Und ja, seit Montagabend sei er verängstigt. Mit der U-Bahn fahre er nun deshalb nicht mehr.

Das kann ein Mitarbeiter der BVG, der Berliner Verkehrsbetriebe, nicht nachvollziehen. „Wozu Angst haben? Wenn etwas passiert, passiert es ohnehin.“ Gemeinsam mit zwei seiner Kollegen geht er gerade Streife in der U-Bahnstation „Zoologischer Garten“, die sich schräg unterhalb des Tatorts befindet. „Man kann doch jetzt nicht einfach gar nicht mehr rausgehen.“

In der U-Bahn zeigen die Bildschirme, auf denen sonst nur Werbung und die Schlagzeilen des Tages zu sehen sind, heute auch eine schwarze Seite: „Wir sind traurig und fassungslos.“

Erschienen in: Wiener Zeitung

12/2016

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