Flüchtlingslager Lipa – „Wir sind Menschen hier“

Der „Game-Shop“ hat geschlossen. Die Wellblechhütte vor dem Flüchtlingslager Lipa in Bosnien verkauft keine Schlafsäcke, Rucksäcke und Stirnlampen mehr – Dinge, die die Menschen für ihren Fluchtversuch nach Kroatien brauchen, den sie mit schwarzem Humor „Spiel“ nennen, ein Glücksspiel.

Ein paar Meter weiter gibt es zwei kleine Geschäfte, die auch alles für das „Game“ verkaufen, dazu Kaffee, Getränke, Zigaretten – drei Mal so teuer als in der Stadt Bihać, sagt Petar Rosandić, Obmann der NGO SOS Balkanroute. Aber die Stadt ist für die Menschen im Lager schwer zu erreichen. Mit dem Auto fährt man zunächst knapp zehn Minuten Schotterwege mit Schlaglöchern und dann weitere zwanzig Minuten auf der asphaltierten Straße nach Bihać. Zu Fuß dauert die Strecke mehrere Stunden. Die nächste Busstation sei weit entfernt, berichtet Rosandić, und eine zeitlang sei es den Geflüchteten außerdem verboten gewesen, mit dem Bus zu fahren. Taxis würden überteuerte Preise verlangen.

„30 Euro nach Bihać und 30 Euro zurück“, sagt Tamim Babkarkhil in einwandfreiem Deutsch. Der Afghane hat sieben Jahre lang in Bayern gelebt und dort eine Ausbildung zum Koch gemacht. Dann kam der Abschiebebescheid. Bevor die Taliban im August 2021 erneut die Macht übernahmen, standen die Chancen für einen positiven Asylbescheid für Afghanen in Deutschland schlecht. Er sei nach Kabul gebracht worden, berichtet Babkarkhil. Doch das Leben in Afghanistan sei mit der Machtübernahme der Taliban noch schwieriger und gefährlicher für ihn geworden. So habe er sich vor wenigen Monaten erneut auf den Weg gemacht.

„Ich habe in einem guten Restaurant gearbeitet“, sagt Babkarkhil. „Ich bin auch Sushi-Meister.“ Bis nach Zagreb habe er es zusammen mit einer kleinen Gruppe kürzlich geschafft, dann hätten ihn kroatische Beamte nach seinem Ausweis gefragt. Man habe ihm seine Jacke, seine Schuhe, seinen Rucksack und sein Handy abgenommen und ihn über die Grenze gebracht. „Das Taxi von dort ins Camp war zu teuer.“ Erst nach einem Fußmarsch nach Bihać habe er sich ein Taxi ins Lager Lipa geleistet.

„Es ist ganz okay hier“, sagt er. Aber das Lager sei zu weit weg von der Stadt. Und es sei langweilig hier, er wolle arbeiten. Deutsche Freunde würden ihm manchmal Geld schicken und versuchen, ihm zu helfen. „Hoffnung zu haben, ist auch schlecht. Wie lange soll man hier bleiben?“ Wann er es wieder über die Grenze versuchen wird? Babkarkhil sieht ratlos aus. „Und der Weg durch den Wald ist gefährlich.“ Es gebe Minen.

NGOs und Journalistinnen und Journalisten dürfen nicht in das Lager. Wir unterhalten uns durch den Zaun. Während Babkarkhil erzählt, wirft Asim Karabegović Schlafsäcke über den Zaun und Pullover. Der 61-jährige Karabegović – genannt „Baba Asim“ – ist Bosnier und arbeitet ehrenamtlich für SOS Balkanroute.

Weitere junge Männer sind gekommen. Babkarkhil übersetzt. Behal ist 18 Jahre alt, er spricht auch ein wenig Englisch. Er hat Tränen in den Augen. „Ich vermisse meine Familie. Ich habe Angst um meine Familie in Afghanistan“, sagt er. In welches Land er wolle? „Irgendwohin, wo ich mich endlich entspannen kann.“ Er zeigt ein Foto, auf dem er zu sehen ist: „Da hatte ich 80 Kilo. Jetzt wiege ich 65.“ Er sei depressiv. „Wir sind Menschen hier“, sagt er. Auch er sei aus Kroatien zurück nach Bosnien gedrängt worden. Ob er über Verletzungen sprechen wolle? Behal schüttelt den Kopf. Dafür zeigen andere Fotos mit nackten, aufgerissenen Füßen und Wunden an Beinen.

Pushbacks bei Kindern

Am Abend zuvor in Bihać hat der Leiter des städtischen Gesundheitszentrums, Jusufagić Ademir, von Schutzsuchenden berichtet, denen die Schuhe abgenommen worden seien und von unterschiedlichen Verletzungen, die seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgen würden. Ademir spricht von gewaltvollen „Pushbacks“ – also rechtswidrigem Zurückdrängen vom Schengenland Kroatien nach Bosnien-Herzegowina. „Ich habe 12-, 13-, 14-Jährige gesehen bei uns, Kinder.“ Nach schlimmen Pushbacks mache das Camp Lipa Sinn, sagt er, denn da gebe es medizinische Versorgung, die Menschen könnten sich erholen. Doch sonst stoße das Lager die Menschen ab. Und: „Niemand will in Bosnien bleiben. Man geht zehn, elf Mal oder öfter ins Game und versucht es wieder.“

„Das sind keine Zahlen, das sind Menschen“

Als er damals gehört habe, dass 25 Kilometer von der Stadt entfernt ein Lager entstehen solle, habe ihm das nicht gefallen, sagt Helfer Baba Asim. „Die Menschen brauchen die Stadt. Sie müssen sich für das Game ausstatten können, sie müssen Geld in Empfang nehmen können.“ Baba Asim betrieb vor seiner Pensionierung in Bihać einen Greißler. „Die Geflüchteten waren in meinem Geschäft, sie waren auf meine Hilfe angewiesen“, sagt er. „Ich konnte doch den Kopf nicht wegdrehen. Einheimische haben sich dann von mir weggedreht. Da habe ich die Unkenntnis vieler begriffen.“ Der Leiter der Ambulanz stimmt ihm zu: „Dass die Leute nicht begreifen, dass das keine Zahlen, sondern Menschen sind.“

Hilfe im „wilden Camp“

In Bihać führt Baba Asim in ein sogenanntes „wildes Camp“. In einzelnen Garagen auf dem Gelände einer aufgelassenen Textilfabrik, heute eine Ruine, bereiten sich immer wieder Menschen auf das Game vor – hier sind sie näher an der Grenze als im Camp Lipa. Ein junger Mann aus Pakistan berichtet Baba Asim, dass ihm das Handy abgenommen worden sei. Die Geflüchteten kennen Asim Karabegović, es macht schnell die Runde, dass man ihm vertrauen kann. Karabegović spürt Menschen in wilden Camps – ausgebrannten Bussen, alten Garagen oder im Wald – auf und versorgt sie. Er verspricht dem jungen Mann, am Abend mit einer Mahlzeit zu kommen und holt aus dem Auto ein Smartphone für ihn. SOS Balkanroute sammelt in Österreich Handys und bringt sie regelmäßig nach Bosnien.

Wer im „Game“ sei, habe Brot für mehrere Tage flach in den Rucksack gepresst. Wenn man die Menschen nicht aufgreife, seien sie in zehn, zwölf Tagen in Italien, sagt Karabegović alias Baba Asim. Tagsüber schlafe man, nachts gehe es mit Stirnlampen durch Hügel und Wälder. „Du kannst Migration nicht stoppen.“

(Compliance-Hinweis: Diese Berichterstattung erfolgt im Rahmen einer Pressereise auf Einladung der Nationalratsabgeordneten Ewa Ernst-Dziedzic. Die Reisekosten werden vom Veranstalter getragen, die Berichterstattung erfolgt unter unabhängiger redaktioneller Verantwortung der APA-Redaktion)

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