Fernab der holländischen Idylle

Als hätte ein Riese mit Bausteinen gespielt, so sieht der jüngst eröffnete gigantische Komplex des holländischen Stararchitekten Rem Koolhaas aus. „De Rotterdam“ heißt das größte Gebäude der Niederlande. Die Turmblöcke sind 150 Meter hoch, und sie stehen im Kop-van-Zuid-Viertel in Rotterdam. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörte dieses Viertel zum Hafen. Die deutsche Luftwaffe bombte es in Schutt und Asche. Heute befinden sich in diesem Bereich Rotterdams moderne architektonische Highlights, Renzo Piano hat hier gebaut und Norman Foster – in Holland gibt es mehr zu sehen als Häuschen mit entzückenden Giebeln und malerische Grachten mit friedlich schaukelnden Booten.

Kommt man bei wolkigem, etwas düsterem Himmel „De Rotterdam“ auf der Erasmusbrücke näher, wirkt der Bau noch gewaltiger. Innen relativiert sich dieses Gefühl. Der Aufzug des in den Türmen eingemieteten Hotels bringt einen in den neunten Stock bis in die Bar hinauf. Dort zu bleiben lohnt nicht, man muss hinaus auf die Terrasse und auf all die Büro- und Hotelbauten schauen, auf den Fluss Nieuwe Maas und auf die Erasmusbrücke, die wegen der Form der Stahlseile auch „Schwan“ genannt wird. Ganz hoch hinauf, bis in den 23. Stock, geht es dagegen nur für jene, die knapp 200 Euro pro Nacht für ein Zimmer bezahlen.

Unter die Top 10 der sehenswertesten Orte der Welt hat die New York Times heuer Rotterdam gewählt. Nicht nur Europas größter Hafen, gewaltige Gebäude und sehenswerte Museen – etwa das Fotografiemuseum – befinden sich in der zweitgrößten Stadt der Niederlande. Was die Stadt besonders macht, ist die Mischung aus rauer, kühler Atmosphäre, aus futuristischen Wolkenkratzern aus Glas und Stahl, aus alten Arbeitervierteln und aus Subkultur. In den 1990er Jahren hatte sich hier eine eigene, härtere und schnellere Form des Techno entwickelt, Rotterdam Hardcore. Die Musikrichtung lebt in der Stadt gerade wieder auf, erzählt Tom, der in der Hotelbar im „De Rotterdam“ kellnert. Für den Abend empfiehlt er die Witte de Withstraat, ein multikulturelles Viertel mit vielen Kneipen, Künstlern und Studenten.

Auch hier bekommt man auf den ersten Blick nicht mit, womit Rotterdam zu kämpfen hat: Die Arbeitslosenquote ist mit durchschnittlich 14 Prozent die höchste unter den niederländischen Großstädten. Die Rechtspopulisten sind stark – wenngleich hier 2008 der erste muslimische Bürgermeister einer westeuropäischen Stadt ins Amt gewählt worden ist.

Ahmed Aboutaleb, Sozialdemokrat, hat einen marokkanischen und einen niederländischen Pass. Bei der EU-Wahl im Mai verbuchte Rechtspopulist Geert Wilders in Rotterdam erneut ein gutes Ergebnis. Hollandweit schnitt er dagegen schlechter ab als noch im Jahr 2009.

Wilders dürfte den Bogen überspannt haben, als er bei einer Wahlkampfveranstaltung gefragt hatte: „Wollt ihr mehr oder weniger Marokkaner?“ und die Menge „weniger, weniger“ rief. Das war manch potenziellem Wilders-Wähler dann doch nicht geheuer, ebenso wie die Aussicht, dass Wilders’ Partei mit dem französischen Front National im EU-Parlament zusammenarbeiten wird.

„So offen und tolerant sind wir jedenfalls nicht, wie man uns lange Zeit nachsagte. Dieses Bild ist zum Gutteil eine Erfindung des Auslands, gespeist aus dem Klima der späten 1960er, als man jahrelang nichts gegen Europa und die Migrations- und Entwicklungshilfepolitik sagen durfte. Eine Stimme für Wilders ist oft eine Stimme gegen die anderen Parteien“, sagt Syp Wynia. Der bekannte holländische Kolumnist sitzt in der Sonne in einem Café im Amsterdamer Jordaan-Viertel. Nur 40 Minuten ist Rotterdam mit dem Zug entfernt – doch die Gegensätze könnten kaum größer sein.

Einst ein Arbeiterviertel, sind die Häuser und kleinen Straßen in Jordaan heute herausgeputzt. Vor den Türen stehen Blumentöpfe und Sitzbänke. Der Name „Jordaan“ soll auf das französische Wort „jardin“ (Garten) zurückgehen. Im 17. Jahrhundert waren viele Hugenotten aus Frankreich in die Niederlande geflohen. Jordaan ist nur wenige Minuten vom Bahnhof und vom Zentrum von Amsterdam entfernt. Touristenmassen schieben sich hier allerdings keine durch die Gassen mit den vielen kleinen Grachten, Brücken, Cafés und Läden.

Ganz anders, kühler und weniger belebt, ist die Atmosphäre in Nord-Amsterdam. Vom Bahnhof aus wird man in drei Minuten kostenlos per Fähre in das Viertel gebracht. Viele Neubauten stehen hier, zum Teil sind sie wie „De Rotterdam“ von Rem Koolhaas entworfen worden. Schon wegen der Aussicht auf das IJsselmeer, ursprünglich ein Meeresarm der Zuiderzee, lohnt sich der Ausflug. Man sitzt – rundum alles ruhig – auf einer der Parkbänke und schaut auf Schiffe, auf den Bahnhof, das Filmmuseum und auf die Konzerthalle.

Nicht viel mit dem Klischee-Bild von Amsterdam hat auch das Oost-Viertel gemein – auch, weil man nicht sofort Wasser sieht. Vom Hauptbahnhof fährt die Straßenbahnlinie 9 nach Oost. Es geht vorbei am Dam, dem Hauptplatz, mit dem Nationaldenkmal für die Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, vorbei an den „Nachtwache“-Bronzeskulpturen am Rembrandtplein, vorbei an der Oper und am Zoo.

Durch Oost zu schlendern macht Spaß, die Umgebung und auch die Stimmung sind ganz anders als im gesetzten Jordaan oder im überfüllten Zentrum. Viele Oost-Einwohner kommen ursprünglich aus der Türkei, aus Marokko und der früheren niederländischen Kolonie Surinam. Türkische Bäcker befinden sich neben kleinen Cafés, indische und indonesische Restaurants neben Geschäften mit Mode aller Art – von Billig-Importprodukten bis zu teureren, hippen US-Labels. Die Häuser aus rotem Backstein in der Javastraat sehen weniger schmuck aus als im Zentrum von Amsterdam und sind keinesfalls niedlich. Viele stammen aus den 1920er Jahren, als die Bevölkerung Amsterdams rapide anwuchs. Eingekauft wird auf dem Dappermarkt, wo man günstig Obst und Gemüse bekommt, geräucherten Fisch, Käse, Blumen, Haushaltswaren. Garküchen bieten verschiedene Reisgerichte und Frühlingsrollen an. Mehrere Male bereits wurde der Dappermarkt übrigens zum besten Markt der Niederlande gekürt.

Den größten Markt der Niederlande gibt es im 50 Minuten entfernten Den Haag, im Transvaal-Viertel, von dem Wilders vor zwei Jahren an EU-Kommissarin Cecilia Malmström geschrieben hatte, sie solle sich hier doch „die Islamisierung“ ansehen. Granatäpfel, Goji-Beeren, Gouda, Fladenbrot, Tulpen, Koffer, Plastikschüsseln, allerlei bekannter und exotischer Krimskrams wird hier auf dem Haagse-Markt verkauft. Marktbesucherin Caroline liebt die „multikulturelle Gegend“, wie sie sagt. „Hierher kommt Wilders nicht. Der Mann geht wirklich zu weit – Kriminalität ist keine Sache von Staatsangehörigkeit oder kulturellem Hintergrund.“

Zurück geht es zum Hauptbahnhof und in den nächsten Zug: In den Niederlanden kann man in dreieinhalb Tagen ohne lange Anfahrtszeit mehr als drei Städte sehen und dazu auch gleich noch einen Abstecher ans Meer machen. Zum Beispiel nach Zandvoort an Zee – ein Ort von durchaus gewöhnungsbedürftigem Charme. An der Hauptstraße, in unmittelbarer Nähe zum Strand, stehen triste, abgenutzt wirkende Wohnklötze. Selbst der denkmalgeschützte Leuchtturm, der karg und braun ist, sieht alles andere als idyllisch aus. Doch der Blick auf den Himmel vom breiten Sandstrand aus ist unschlagbar. Dazu ein Stück Appelgebak met Slagroom (holländischer Apfelkuchen mit Schlagobers), und alles ist gut.

Erschienen in: OÖNachrichten/Reise

Datum: 06/2014

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