Gegen die Norm: Stekovics und seine Tomaten

Fünf Tomaten am Tag, mehr nicht. Es ist wie beim Wein. Zu viel davon, und man schmeckt keinen Unterschied mehr. „Der Gaumen versäuert“, erklärt Erich Stekovics. Dabei könnte er fast 600 Sorten durchprobieren. So viele wachsen jedes Jahr auf seinen Feldern. Von mehr als 3.200 Sorten hat der Landwirt aus dem Burgenland die Samen. „Die Tische Europas deckt man mit einer handvoll Hybridsorten“, sagt er, „obwohl es weltweit 300.000 Paradeisersorten gibt, von der ja jede anders schmeckt.“

„Paradeiser“ sagt Stekovics, das österreichische Wort für Tomate, Paradiesfrucht. Rot und rund – in Stekovics Garten und auf seinen Feldern sind Paradeiser auch gelb, weiß, grün, gestreift, einmal länglicher, einmal ballonartiger, einmal in Murmelgröße. Auch eine blaue Tomate mit weißem Stern auf der Oberfläche pflanzt der 42-Jährige an: die peruanische Wildtomate. Essen kann man sie im Spätsommer. „Alles hat seine Saison“, sagt Stekovics. „Auch wenn man das ganze Jahr im Supermarkt Paradeiser kriegt.“ Gute Paradeiser gebe es aber nur ungefähr sechs Wochen lang im Jahr. Die Ernte hat Stekovics gerade abgeschlossen, es gab bereits den ersten Frost – damit ist Schluss für dieses Jahr.

Stekovics ist kein Kauz, der von Paradeisern alles und von Menschen nichts wissen will. Er ist aber auch kein großer Erzähler, einer, der begeistert Reden schwingend der Welt von seinen Pflanzen mitteilt. Er wieselt hin und her, es gibt immer etwas zu tun. Man kann ihn dabei beobachten, wie er einmal Tomatenpflanzen ins Auto lädt, einmal Besuchern kurz sein Einmaleins der Paradeiser-Pflege mit auf den Weg gibt („Nicht gießen!“). Manchmal stellen auch die Leute Fragen, zum Beispiel, warum es hier nach Erdbeeren riecht. Dann deutet Stekovics in einen Raum. Gestern hat er Marmelade eingekocht.

Stekovics Augen blitzen heiter, aber man ahnt, dass er mitunter auch unangenehm werden kann – zum Beispiel dann, wenn er sich zum jüngsten Vorstoß von Einzelhandelsketten äußert, Gemüse- und Obstraritäten anzubieten – auch eine blaue Kartoffel soll darunter sein. Davon hält er nichts. Zum Großteil werde ja weiterhin Einerlei verkauft, auch wenn man nun ein bisschen Buntheit anbiete, sagt er. Was hinter Vielfalt stecke, hinter den alten Anbaumethoden, davon spreche keiner, auch nicht davon, wie viel Mühe und Arbeit das koste.

Seit der Jahrtausendwende widmet er sich ganz und gar seinen Früchten. Als kleines Kind hat ihn sein Vater mit aufs Feld genommen. Der Vater pflanzte den Samen ein, Stekovics tat die Erde darauf. Später studierte er Theologie und unterrichtete Religion. „Ich war Zivildienstleistender und hatte mit krebskranken Menschen zu tun, die mir immer wieder gesagt haben, sie hätten gern noch mehr Zeit, Dinge zu tun, die sie lieben“, erzählt er. Das habe ihn wachgerüttelt. Er wollte gleich tun, was ihm richtig Freude machte.

Aus alter Liebe zur Landwirtschaft hat er deshalb damit begonnen, in Frauenkirchen im Burgenland Samen des Sortenerhalters Arche Noah zu kultivieren. 6.000 Sorten, vor allem von Gemüse und Kartoffeln, bewahrt das Archiv des Vereins in Österreich. Stekovics ist eines jener hundert Mitglieder, die gefährdete Sorten anbauen und vermehren. „In den letzten 20 Jahren gingen 80 Prozent der Kulturpflanzen verloren, weil sie nicht mehr angebaut worden sind. Das werden uns spätere Generationen einmal vorwerfen, wenn es kaum noch Vielfalt gibt“, meint der Landwirt. Er deutet auf eines der Pflänzchen und sagt: „Hier haben wir die alte Moskauer Sorte Pol Robson. Ein rot-grüner Salatparadeiser mit violett-rotem Innenleben.“

Als alte Sorte gilt, was es seit mindestens 30 Jahren gibt. Aus dem Jahr 1976 etwa stammt „Pepito“ aus der volkseigenen Saatgutzucht der DDR, das älteste Saatgut, das Stekovics hat. Ein privater Sammler hat sie ihm vermacht. „Irgendwann kennt man sich in der Szene“, sagt Stekovics. Immer wieder bringen ihm aber auch einfach Urlaubsheimkehrer Paradeiser oder Samen vorbei, die sie zum Beispiel auf einem lokalen Bauernmarkt in Griechenland entdeckten.

Die Gelbe Johannisbeere ist die älteste Tomatensorte, die es in Stekovics Betrieb gibt: 1.400 Jahre alt ist die Sorte. Sie stammt aus Peru und schmeckt nach Haselnuss. Aus seinem Lieblingsparadeiser macht der Landwirt auch Marmelade. Seine Begeisterung für Tomaten teilen seine zwei Kinder übrigens nicht. Tochter Miriam will Krankenschwester werden, Sohn Elijas besucht eine Höhere Technische Schule. Das stört Stekovics aber nicht: „Es war ja mein sehnlichster Wunsch, das zu tun. Jeder soll das machen, was er will.“

Dass der Landwirt vor allem Tomaten pflanzt, liegt auch am Klima des östlichen österreichischen Bundeslandes, des Burgenlandes. 300 Sonnentage, so sagt man, gibt es hier in der Region um den Neusiedlersee, dem größten Steppensee Europas. Die Gegend ist trocken, der Wind weht. Das ist gut für die Paradeiserpflanzen: Regen und Morgentau trocknen auf natürlichem Weg wieder ab, Pilze haben kaum Chance.

„Der wesentliche Geschmack kommt vom Boden“, erklärt Stekovics. Der ist die wichtigste Nährquelle für die Pflanzen. Denn einmal auf dem Feld, werden diese der Natur überlassen: kein Dünger, keine künstliche Bewässerung. Nach den Eisheiligen, Mitte Mai, kommen die Tomatenpflänzchen auf die Felder. Zuvor waren sie sechs Wochen lang zum Aufziehen in Töpfen. Und davor wurde ihr Samen in die Erde des Topfes gelegt. Um den Samen zu bekommen, kann man an der Frucht so lang herumlutschen, bis er übrig bleibt – die „russische Variante“ der Gewinnung. Stekovics erklärt: „Das machten russische Großmütter, die keine Zähne mehr hatten. Bei uns ginge das nicht, wir würden ja zu sonst nichts mehr kommen.“

100 bis 200 Samen befinden sich in einer Frucht. So wird in größeren Mengen die geleeartige Flüssigkeit mitsamt den Samen aus den Tomaten rausgequetscht, anschließend werden die Samen an der Sonne getrocknet. 30 bis 40 Jahre sind Samen haltbar, tiefgekühlt sind sie es unbegrenzt. In simplen Papiertütchen verwahrt sie Stekovics‘ Betrieb.

Was daraus wird, kann man im Hof und auf den Feldern sehen. „Die ist zuckersüß und heißt auch so“, sagt Stekovics und deutet auf Justinus Zuckersüß, eine alte deutsche Sorte. „Und die Prune Jaune schmeckt wie ein Golden Delicious Apfel.“ Die Prune Jaune: ein pflaumengroßer, orangefarbener Cocktailparadeiser. Weniger schön, dafür umso lustiger sieht die Russische Reisetomate aus: Den Paradeiser formen kleine Früchte, murmelgroß. Sie lassen sich ohne Messer von einander trennen, wie Weintrauben.

Viele der Paradeiser haben Risse und Narben. „Im Supermarkt würde die kein Konsument kaufen“, meint Stekovics. Dafür gibt es andere Begeisterte: den ältesten Sohn des Emirs von Qatar etwa. Der sah während eines Parisaufenthaltes auf Arte einen Bericht über Stekovics und ließ diesen daraufhin in sein Land einfliegen. Stekovics sollte ihm den Tomatenanbau näher bringen. Mittlerweile gibt es auch zu anderen arabischen Ländern Kontakt. Weder hier noch da verkauft er aber seine Tomaten. Denn sein Obst – botanisch gesehen sind Tomaten nämlich kein Gemüse, sondern zählen zu den Beerenfrüchten – eignet sich nicht dafür, lange gelagert oder transportiert zu werden. So verkauft Stekovics Tomatenpflanzen, Eingelegtes, Aufstriche, Pasteten, Marmeladen. „Kein Saatgut“, betont er. Neben den Paradeisern kultiviert sein Betrieb mit acht Mitarbeitern auch alte Apfel- und Erdbeersorten.

Im Sommer führt Stekovics durch die Felder, vier Stunden lang. Dafür braucht man nicht nur zuzuhören und zu schauen, sondern kann auch verkosten. Wie viel Tomatensorten er selbst blind erschmecke? „60“, sagt der Landwirt. Und nach einer kurzen Pause: „Aber 300 müsste ich eigentlich auch schaffen.“

Erschienen in: Berliner Zeitung

Datum: 09/2008

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