Hans-Christian Ströbele: „NPD-Verbot bringt ungeheure Propagandamöglichkeit“

Der Grüne Hans-Christian-Ströbele über NSU, NPD und über seine Partei.

Herr Ströbele, wie konnte der „Nationalsozialistische Untergrund“ so lange unentdeckt morden? Waren das Fehler, Pannen oder hatte das System?

Hans-Christian Ströbele: Das hatte System – obwohl ich bisher keinen Anhaltspunkt dafür habe, dass irgendeine ordnende Hand dahinter war. Ich glaube vielmehr, dass es an der Einstellung und Mentalität der Mitarbeiter in den Sicherheitsapparaten von Polizei bis Geheimdiensten lag. Auf der einen Seite handelt es sich um eine Verharmlosung, auf der anderen Seite um eine Haltung: „Das darf nicht sein und was nicht sein darf, ist auch nicht“. Was dann dazu geführt hat, dass man ganz offenliegende Zusammenhänge nicht wahrgenommen hat oder nicht wahrhaben wollte und ungeheure, anders nicht erklärbare – auch kriminalistische und handwerkliche – Fehler gemacht hat.

Und jetzt?
Ich habe so etwas vorher nicht für möglich gehalten. Ich dachte zunächst auch, naja, das sind einzelne Leute, die falsch gehandelt haben, mal der und mal der – aber das stimmt nicht. Es gab wenige in den Sicherheitsapparaten, die auf die Idee kamen, dass doch alles dafür spricht: Hier sind Rechte am Werk. Wir müssen davon ausgehen, dass es diese Trio heute noch gäbe, wenn sich die zwei Männer nicht umgebracht hätten. Gut, die Polizei war ihnen nach dem Banküberfall sehr dicht auf der Spur, aber sie wusste nicht, dass das Serienmörder sind.

Welche Konsequenzen sollte es nun geben?
Das Personal in den Sicherheitsbehörden, das so versagt hat, muss ausgetauscht werden. In jeder Firma würde man das machen. Dahinter steckt doch ein Denken, das zu diesem allseitigen Versagen geführt hat. Ich sage gar nicht, dass in den Behörden Sympathisanten mit Rechtsradikalen am Werk waren, sicherlich nicht. Aber man hat nicht richtig hingeguckt, hat nicht zusammengearbeitet, ist dem Alarmschrei „Das könnten Rechte sein“ nicht nachgegangen.

Die NPD, die nationaldemokratische Partei Deutschlands, wird kaum gewählt. Wie sieht es mit rechtspopulistischen Parteien aus, sehen Sie dafür Potenzial?
Ich glaube, dass es auch in Deutschland so ein Potenzial gibt. Gott sei Dank haben die Rechtsradikalen hier bei Wahlen keinen Erfolg. Das hat viele Gründe. Das liegt an deren Personal und Auftreten. Aber auch daran, dass es sehr viele Aktivitäten gibt – gerade in der Zivilgesellschaft – die diese Art zu denken und zu handeln erfolgreich anprangern. Bei jeder Wahl wird gezeigt, dass die NPD nicht akzeptiert wird – wobei ich ja gegen ein NPD-Verbot bin.

Warum?
Die NPD würde durch ein Verbotsverfahren, das mehrere Jahre dauert, eine ungeheure Propagandamöglichkeit bekommen. Die NPD war noch nie so stark, hatte nie so viele Stimmen bekommen wie damals während des Verfahrens nach 2001. Bei einem Verbotsverfahren kommt es zu einem Solidarisierungseffekt, auch in der rechten Szene – egal, ob man bis dahin zerstritten war. Und die Szene, die Sympathisanten sind ja nicht weg nach einem Verbot. Wenn man sich die NPD wegdenkt, sind ja weder die Aktiven noch die Wählerinnen und Wähler weg. Außerdem kann man den radikalen Teil besser bekämpfen, wenn die NPD erlaubt und sichtbar bleibt. Stellen Sie sich vor, Sie haben stattdessen neue „Kameradschaften xy“. Wenn die demonstrieren, wissen Sie ja erst einmal nicht viel über die. Bevor Sie eine wirksame Gegen-Demonstration hinkriegen, müssen Sie erst herausgefunden haben, was das für Leute sind, dass die schlimm sind – wenn hingegen die NPD demonstriert, weiß jeder sofort, da muss man dagegen sein.

Und was ist mit dem Argument, dass Steuergelder die Partei finanzieren?
Dass Steuergelder in die NPD fließen, ist schlimm. Da muss man sich etwas überlegen, muss über Restriktionen nachdenken. Es gibt in der Verfassung einen Artikel, der noch nie angewandt worden ist: Man kann auch einzelnen Personen die Möglichkeit der Propagierung rassistischer Äußerungen aberkennen.

In manchen Orten ist die NPD extrem stark, sie organisiert Kinder- und Sportfeste, vieles ist in ihrer Hand. Was müsste man tun?
Natürlich muss man – da sind wir jetzt bei „Multikulti“ – alle Probleme, die es gibt, ernst nehmen, und man muss etwas tun, das kostet natürlich Geld. Auf der einen Seite kann man in der Förderung von sozial benachteiligten Migrantenkindern nicht genug machen, damit die aus ihren beschränkten Möglichkeiten herauswachsen können. Auf der anderen Seite muss man dort, wo die NPD stark ist, versuchen, dem etwas entgegenzusetzen. Das wird immer mal getan, dann wird Geld zur Verfügung gestellt, aber das sind auch oft die Finanzposten, bei denen als erstes wieder gespart wird. Und ein Patentrezept „Morgen kriegen wir das aus den Köpfen der Leute heraus“ gibt es nicht.

Anders als in Österreich, wo SPÖ und ÖVP immer wieder mehr oder weniger stark auf den FPÖ-Zug aufzuspringen, um zu versuchen, Wähler zurückzuholen, grenzen sich in Deutschland SPD und CDU zu Rechtspopulismus klar ab.
Ja. Die SPD wird keine rechtspopulistische Partei. Aber wenn Sie sich an die Debatte Anfang der 90er Jahre erinnern: Die Verschärfung des Asylrechts ist von der SPD mitgetragen und nicht nur von der CDU propagiert worden. Und wenn man versucht, Anhänger und Mitglieder mit gefährlichen Positionen zu bedienen, besteht die Gefahr, dass die Radikalisierung von Rechten, Rassistischen, Gewaltbereiten größer wird. Die Molotowcocktailwerfer gegen Asylbewerberheime Anfang der 90er waren ja auch der Meinung, sie wenden sich damit gegen etwas, hinter dem die Mehrheit der Bevölkerung steht.

Kommen wir zu den Grünen. Vor unserem Treffen habe ich mich umgehört, was man so über die Grünen denkt – von Ihrer Partei sei nicht mehr viel zu erwarten, hieß es oft, man sehe die immer gleichen Gesichter, und Umweltschutz-Klimaschutz-Multikulti sei schön und gut, aber alles in allem befinde sich die Partei in ihrer eigenen Welt.
Nein, das stimmt nicht. Mag sein, dass die Grünen nicht mehr so ein Aufreger wie früher sind, aber die Zustimmung, die soweit führt, dass man die Grünen wählt, sogar Mitglied wird, ist stärker geworden. Die Grünen waren noch nie so beliebt und haben noch nie so viele Wähler und Mitglieder angezogen wie heute, nicht annähernd. Bundesweit werden wir bei 13 Prozent gehandelt, viele Jahre lagen wir um die 5 oder 7 Prozent, und die Mitgliederzahl steigt ständig.

Trotzdem: Für das „Frische“ stehen zurzeit eher die Piraten als die Grünen.
Es wird ja immer gesagt, die Piraten seien die Jungen, repräsentierten die Internetgeneration. Dabei übersieht man, dass bei den Grünen sehr, sehr viel Junge dazugekommen sind. Und lange können es die Piraten nicht durchhalten, zu den wichtigsten Fragen der Gesellschaft zu sagen: „Da hab‘ ich keine Meinung“. Allerdings: Dass die Piraten vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erklärten, sie können sich vorstellen, einen Rot-Grünen Regierungschef mitzuwählen, auch ohne vorher große Verhandlungen zu führen – diese Herangehensweise, etwas sachorientiert zu sehen anstatt zu schauen, was man für sich selbst herausholen kann, finde ich sehr demokratisch.

Sie sind also zufrieden mit den Grünen?
Ich habe mich nur gegen Ihr Argument gewehrt, viele würden sagen, die Grünen seien nicht mehr attraktiv. Natürlich kritisiere ich immer wieder Entscheidungen. Ich bin ein bekannter Gegner verschiedener Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr. Auch bei Hartz IV habe ich zu den Acht gehört, die zuletzt dagegen gestimmt haben, und auch bei dem Thema Zwangssparauflagen für Griechenland bin ich anderer Meinung als die Mehrheit der Fraktion.

Sie haben im Parlament gegen den ESM-Rettungsschirm gestimmt.
Ich glaube, es ist als Oppositionspartei richtiger, Unterschiede klar zu machen und zu betonen. Die Bevölkerung will doch Alternativen sehen. Ich bin nicht dagegen – ganz im Gegenteil – dass man als Oppositionspartei für ein Gesetz stimmt, wenn man es vertreten kann. Aber ich bin dagegen, für etwas zu stimmen, das man sonst ablehnt, weil „wir sonst nicht für gute Europäer gehalten werden“. Damit diskreditiert man das Projekt Europa aber.

Die Grünen steckten in den letzten Jahren immer wieder in dem Dilemma, entweder als „zu radikal“ zu gelten oder als zu sehr „Mainstream“.
Ja, natürlich, in den Anfängen der Grünen waren die Forderungen viel, viel radikaler und konsequenter – innenpolitisch gegenüber dem Repressionsapparat wie auch in der Sozial- oder Migrations- und Flüchtlingspolitik. Aber ich glaube, wenn man Regierungsbeteiligungen anstrebt, und das habe ich ja auch immer getan, muss man Kompromisse machen. Nur, die Frage ist: Wie weit geht man da?

Ihrer Meinung nach hätten die Grünen nicht so viele Zugeständnisse machen sollen? Wie findet man dann Kompromisse?
Bei Kriegsentscheidungen zum Beispiel heißt es gerne, ein Ausscheren aus der Koalition der Willigen mit den USA können wir uns nicht leisten, was denken da die Amerikaner von uns, dann ist doch die Beziehung gestört. Ich war aber immer schon der Meinung, dass mich das nicht dazu bringen kann, einer Kriegsbeteiligung zuzustimmen. Die Erfahrung mit dem Nein zum Irakkrieg zeigt ja auch, dass Nichtbeteiligung vielleicht mal zu einer Verstimmung bei den USA führt, aber nicht dauerhaft. Dazu ist die internationale Politik zu sehr interessengeleitet.

Sind Sie gegen einen Einsatz in Syrien?
Ich halte es für richtig, nicht militärisch hineinzugehen. Ich wüsste gar nicht, wie man da wen unterstützen will. Ich bin nicht dafür, dass dieses Regime an der Macht bleibt. Aber wenn ich mit deutschen Soldaten eingreifen wollte, wie mache ich das? Sehr viele werden sich gegen die von außen Kommenden wenden, so wie das die Amerikaner im Irak erlebt haben. Und in Syrien hat man ja im Widerstandsspektrum alles, von El Kaida bis zu gewaltlosen Demokraten. Wie wollen Sie da die einen unterstützen und gleichzeitig nicht auch die anderen?

Welche Inhalte sind künftig für die Grünen besonders wichtig? Sollte man stärker auf Finanzpolitik setzen?
Ich halte überhaupt nichts von der Diskussion „Was können wir jetzt mal tun, welches Thema suchen wir uns aus“. Wir werden auf lange Zeit nicht die Partei werden, von der man sagt: Die sind aber in der Finanzpolitik genau die richtigen. Die Grünen sind ja deshalb auch so erfolgreich, weil die Bevölkerung gesehen hat, dass wir Themen überhaupt in die Politik hineingebracht haben – für die wir 20 Jahre lang belächelt und verhöhnt wurden. Jetzt sind die bei allen irgendwie angesagt. Das gilt nicht nur für den Abschied von der Atomkraft. Das gilt auch für eine andere Herangehensweise bei der Migrationspolitik, das sind auch gesellschaftspolitische Themen, Gender, Schwule und Lesben oder alternative Lebensweisen. Da sind ja Lebensformen wie Wohngemeinschaften, bei denen man den Kopf geschüttelt hatte, inzwischen in der Gesellschaft angekommen.

Und wozu braucht es dann noch die Grünen?
Ja, aber nur weil Frau Merkel jetzt auch für den Atomausstieg ist, ist sie doch nicht diejenige, auf die sich die Hoffnung all derer konzentriert, die immer schon einen schnellen Ausstieg wollten. Da können sich Umweltminister von SPD oder CDU noch so bemühen, für eine „ganz neue Energiepolitik“ zu stehen – das glaubt denen doch keiner, da müssen doch die Grünen dabei sein. Also, die Themen sind ja nicht erledigt, nur weil sie auch bei den anderen Parteien anerkannt sind.

Wie gefällt Ihnen das Prozedere, in einer Urwahl, an der alle Mitglieder teilnehmen können, die Spitzenkandidaten für die kommende Bundestagswahl zu finden?
Das finde ich sehr demokratisch. Ich habe die Kritik daran in den Medien und auch bei einzelnen Grünen überhaupt nicht verstanden. So eine Wahl durch die Mitglieder ist doch die sauberste Lösung.

Es haben sich aber wenig zur Wahl gestellt, und dabei viel mehr Männer. Und die Auftritte der Kandidaten, die in den letzten Wochen durch Deutschland tingelten, waren zum Teil schon skurril.
Daraus können wir lernen, dass man Bewerbungen nur mit bestimmten Vorgaben zulassen sollte, etwa mit einem Vorschlag vom Kreisverband oder ab einer Zahl an Unterstützungs-Unterschriften. Sonst kann man so ein Verfahren ja ad absurdum führen, wenn hunderte Bewerber kandidieren können.

Und wie steht es mit Ihnen, wollen Sie wieder ins Parlament gewählt werden?
Nur wenn meine Gesundheit voll wiederhergestellt ist.

Im „Spiegel“ sagten Sie kürzlich, Sie gehen nicht mehr davon aus, dass in 5, 10, 15 oder 20 Jahren die Revolution kommt. Wie hatten Sie sich die Revolution denn vorgestellt?
Ich war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre der Meinung, wir brauchen eine Umwälzung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die nur durch eine Revolution zu erreichen ist. Inzwischen habe ich verstanden, dass das nicht stattfindet. Aber ich bin immer noch der Auffassung, dass sich in unserer Gesellschaft Verhältnisse substantiell ändern müssen – die jetzt bekannten Forderungen: Es geht nicht, dass der gesellschaftliche Reichtum, der ja in Deutschland unzweifelhaft da ist, so ungleich verteilt ist und dass unser vergleichsweise großer Wohlstand in Deutschland auf der Ausbeutung vieler Länder und Völker beruht. Dazu gehört auch eine ganze Menge mehr. Und ich bin nicht der Meinung, dass die sogenannte APO, also die außerparlamentarische Opposition, damals nichts erreicht hat.

Woran denken Sie dabei?
Die APO hat Gewissheiten in der Gesellschaft in Frage gestellt, alte Zöpfe abgeschnitten, aufgeklärtes Denken und Handeln durch Tabubrüche gefördert. Z.B.: Die meisten Studenten leben heute in Wohngemeinschaften. Als in Berlin damals Kommunen entstanden – das war ein Tabubruch. Von den Medien und der Politik wurde Zeter und Mordio geschrien. Als ich als Student nach Berlin kam, habe ich wie alle Studenten bei einer Wirtin gewohnt. In meinem Zimmer gab es eine Glasscheibe, so konnte die Wirtin kontrollieren. Damenbesuch war nur bis 18 Uhr gestattet. Und als ich angefangen habe, als Rechtsanwalt zu arbeiten, 1969, war Homosexualität unter Männern strafbar. Heute sagt man, die sollen doch die Ehe miteinander schließen oder Liebesgemeinschaften leben, wie auch immer. Die APO hat unendlich viel verändert, im Denken, an Wertvorstellungen, Lebensweisen – oder sagen wir mal: Sie hat mitgeholfen, das zu verändern. Aber klar, diese politischen Veränderungen, die wir als direktes Ziel hatten, die haben wir nicht erreicht.

Hans-Christian-Ströbele, geb. 1939, ist ein Urgestein der deutschen Grünen. Seit 1969 ist Ströbele als Anwalt zugelassen; er war Mitbegründer des „Sozialistischen Anwaltskollektivs“ in Berlin und übernahm 1970 die Verteidigung von Angehörigen der RAF, u.a. von Andreas Baader. 1978, nach einer fünfjährigen Mitgliedschaft bei der SPD, gründete er die „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“ mit, den späteren Berliner Landesverband der Grünen. 1990/91 war einer der drei Vorsitzenden der Bundespartei. 2002 zog Ströbele ganz ohne Listenplatz und dann erneut 2005 und 2009 über ein Direktmandat in seinem Wahlkreis Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg in den deutschen Bundestag ein.

Erschienen in: Wiener Zeitung

11/2012

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