Nicht ganz zwei Stunden hatte ich Ruhe. Dann wurde ich geweckt. Es war kurz vor acht Uhr in der Früh. Eine Masse drängte in den ICE, der von Berlin kommend nach Köln fuhr. CD-Player wurden aufgedreht, Flaschen geöffnet, man stieß an, sang mit, stieß erneut an, sang noch lauter mit. Es war mit einem Schlag die Hölle an diesem Sonntag im Februar vor zwei Jahren. Ich sah auf das Schild „Psst“, das an der Zugwand neben dem Handyverbotschild klebte. Ein Schaffner ging vorbei, grüßte und sagte sonst nichts.

„Nee, da kannste nix machen. Das ist Karneval. Da ist das Gesetz außer Kraft“, entgegnet ein Dortmunder auf meine Erzählung. Sein Sarkasmus ist unüberhörbar: Der Mann kommt aus dem Ruhrgebiet. Dortmund liegt von Köln zwar nur 70 Kilometer entfernt, doch der Graben zwischen Pott und Rheinland ist gewaltig. „Der Rheinländer ist verrückt“, sagt der Mann aus Dortmund. „Andere Sprache, andere Kultur, andere Bierkultur. Nein, gar keine Bierkultur.“ Die kleinen „Kölsch“ serviert in einem 0,2-Glas nimmt jemand aus dem Pott – Kohle, Stahl, Fußball, Brauereien – nicht ernst. Auch in Norddeutschland ist man distanziert: „Karneval? Damit kannst du mich jagen“, sagt ein Bekannter aus Hamburg.

Am 11.11. um 11 Uhr 11 geht es jedes Jahr los. Haha? Halt. Der Kölner versteht hier keinen Spaß. Kölner Freunde posten jährlich auf Facebook den Karnevalsruf „Alaaf!“, als sei es das erste Mal. Der Karneval ist offensichtlich das Highlight des Jahres. Der frühere EU-Parlamentspräsident und neue SPD-Chef Martin Schulz bekannte im ORF einmal: „Da könnt ich heulen“, als er das Karnevalslied „En unserem Veedel“ (In unserem Viertel) hörte. Zunächst ergriffen, dann inbrünstig sang er mit.

„Köln und Karneval, das hat mit Identität zu tun. Man muss sich mit der Gruppe identifizieren. Man muss sich darauf einlassen, kölsch zu sein“, sagt Tom Ashforth. Der Brite lebt seit zwanzig Jahren in Köln. An einem Faschingssamstag ist der Musiker das erste Mal in der Stadt angekommen – und fand alles ganz großartig. „Alle waren gut gelaunt, total nett und hilfsbereit. Und überall Besoffene. Ich dachte, das sei normal.“ Dann habe er die Realität gesehen: Der Karneval war vorbei und alle „hatten graue Gesichter“.

Köln ist am schönsten

„Es ist hier sehr organisiert, sehr ordentlich im Sinne von: Hier ist festgelegt, wann man unordentlich sein kann“, sagt Ashforth. „In England ist das jedes Wochenende möglich. Hier in Köln lässt man ein Mal im Jahr alles raus und dann muss man ein Jahr lang warten, bis man wieder alles auf den Kopf stellen kann.“ War er mal auf einer „Sitzung“ in den letzten Jahren? „Ich habe mich noch nicht getraut.“

An einem Mittwoch heuer im Februar bin ich in der Altstadt vor dem „Gürzenich“, der Kölner Festhalle, fünf Minuten vom Dom entfernt. Hier finden viele der „Sitzungen“ statt, der Karnevalsveranstaltungen mit Musik, Tanz und Büttenreden. Im Kopf das Geschimpfe des Ruhrpottlers: „Diese albernen Veranstaltungen! Dieser Humor! ,Wir ziehen los in ganz großen Schritten und Erwin fasst der Heidi von hinten an die Schulter, hihi, huhu.‘ Schunkel, schunkel. Und diese Lieder, die gern davon handeln, dass es in Köln am schönsten ist und gelegentlich davon, dass es in der anderen Stadt – das ist Düsseldorf – nicht so schön. Ja, das sind so die Themen.“ Ein anderer Freund, aufgewachsen in Emmerich am Rhein, warnte mich: „Du wirst vom Stuhl kippen. Lass dich nicht zu Grunde schunkeln!“

Es ist „Mädchensitzung“ des Karnevalvereins Rote Funken. Auf der Straße sieht man Frösche, Fliegenpilze, Micky Mäuse, Katzen, grell geschminkte Frauen mit Glitzer auf den Wangen. Die Garde marschiert heran. Alles strömt in den Gürzenich. „Unkostümiert?“, fragt der Ticketkontrolleur freundlich. „Na, da wernse auffallen wie’n bunter Hund.“

„Haha, du gehst auf eine Sitzung? Hast du auch ein Kostüm?“, schrieb mir Rebecca, eine mit Köln verbundene Berlinerin. „Oh. Man braucht also ein Kostüm? Reicht eine rote Nase?“, fragte ich zurück. „Nur mit roter Nase wirst du dich unwohl fühlen! Vielleicht kannst du dir ja was ausleihen. Oder was ganz Einfaches machen, zum Beispiel eine schwarze Katze. Da musst du dich nur schwarz anziehen und ein bisschen schminken und solche Ohren aufsetzen;).“

Ich sitze neben Silvie aus Köln. „Schönes Kostüm!“, sagt sie und lacht herzlich. Dann kramt sie in ihrer Handtasche und holt ein rot-weißes Band heraus, das sie mir prompt in die Haare bindet. „Die Farben der Roten Funken, der Hanse, des 1.FC Köln“, erläutert sie und malt mir noch einen grün-glitzernden Punkt auf die Nase. Zehn Minuten später haken sich Silvie und ihre Freundin mit einem entwaffnenden Lächeln bei mir unter – und wir schunkeln. „Oh, wie ist das schön, das hat man lange nicht gesehen, so schön.“ Dann ein Lied, in dem es um Sonne, Dom und Rhein geht. „Dom und Rhein, davon handeln die meisten Karnevalslieder“, sagt Silvie. Auch Kölner Dialektausdrücke erklärt sie prompt („Bützchen, dat is ein Küsschen“). Der britische Musiker Tom hat recht: Auffallend nett und hilfsbereit. Ich müsse unbedingt zur Weiberfastnacht kommen, sagt Silvie noch, am Donnerstag vor Aschermittwoch.

Falsch operiert? Alaaf!

In den Tagen vor Aschermittwoch ist in ganz Köln Ausnahmezustand. Auch im Schaufenster der Filiale des oberösterreichischen Unternehmens „Grüne Erde“ ist zu lesen, dass man geschlossen haben und feiern wird. Ein befreundeter Oberarzt, der eine Zeit lang in Köln gearbeitet hat, berichtet, Karneval sei für Arbeitstiere wie ihn eine reine Katastrophe: Die Ärzte erst gar nicht da oder gezeichnet vom Feiern, eine Unterversorgung des Krankenhausbetriebes – und die Patienten hätten auch noch Verständnis dafür. „So nach dem Motto: Mir wurde versehentlich das falsche Organ entfernt, aber egal, es war ja Karneval.“

Ein syrischer Freund hört interessiert zu, während ich von der Zugfahrt damals nach Brüssel berichte, mit Umstieg in Köln. Um zehn Uhr Vormittag Menschenmassen auf dem Bahnhof, niemand – nur ich – ohne Kostüm. In den vorbeifahrenden S-Bahnen Katzen, Piraten, Clowns. Auf den Bahnsteigen Krach, Schunkel-Musik oder Techno. Gejohle. Gekreische. Klingt doch ganz lustig, findet der Freund und fragt, was „schunkeln“ ist. Ich mache es ihm vor, er lacht. Das sei bestimmt nett. Köln – da wolle er einmal hin.

Unverdrossen wird marschiert: die Garde vor dem "Gürzenich", der Kölner Festhalle. - © Zeiner

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Info:

Das Geschäft mit den Jecken

„Ein Vierteljahr Nebel, den Rest der Zeit Rübenanbau und Rübenernte. In solchen Gegenden kommen Menschen auf andere Ideen – dem Rheinländer ist Karneval eingefallen“, schrieb der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther, einmal in der „Zeit“.

Seit 1823 gibt es Karnevalsvereine, sie organisieren die Veranstaltungen in der „fünften Jahreszeit“. Auch das älteste Corps, die Roten Funken, gibt es seit 1823. Die Karnevalsgarden hatten mit ihren Auftritten besonders die strengen Preußen im Blick.

Während der „Session“, die am 11.11. um 11Uhr beginnt, finden Sitzungen und Umzüge statt. Deutschland größter Karnevalsumzug ist immer am Rosenmontag in Köln, geht über eine Strecke von 7,5 Kilometern und dauert fünf Stunden lang. Man kann dabei vom Straßenrand aus zuschauen oder einen Tribünenplatz kaufen. Sitzungs- und Tribünenkarten sind nicht gerade ein Schnäppchen: Mindestens 35 Euro muss man rechnen – mit Catering kann ein Ticket auch 148 Euro kosten. Laut Boston Consulting vom Jahr 2009 erwirtschaftet der Karneval in Köln 460 Millionen. Euro. Davon entfallen 165 Millionen Euro auf die Gastronomie, 85 Millionen Euro auf Kostüme und 75 Millionen Euro auf Transportkosten wie Taxi und Zug.

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Erschienen in: Wiener Zeitung, 02/2017