Gesine Schwan: „Politiker brauchen mehr Impetus“

Die Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan vor dem SPD-Parteitag über die schwächelnde Sozialdemokratie, eine Kanzlerin, die „der Demokratie schadet“ und Parallelen zum amerikanischen Parteiensystem

Frau Schwan, was wäre schlecht daran, wäre Angela Merkel auch nach 2017 Kanzlerin? Die SPD wirkt ganz zufrieden mit ihr.

Gesine Schwan: Frau Merkel schadet mit ihrem Politikstil der Demokratie und dem Zusammenhalt der Europäischen Union.

Warum?
Sie orientiert sich nicht an langfristigen Zielen, an Grundwerten oder auch an wohlverstandenen nationalen Interessen. Sie entscheidet immer wieder ad hoc ohne zu bedenken, welche längerfristigen Konsequenzen daraus entstehen. Und da sie die Konsequenzen immer wieder einholen, versucht sie öffentliche und klare Debatten zu vermeiden, die in meiner Sicht zu einer funktionierenden Demokratie gehören. Außerdem versucht sie, verbal Widersprüchliches als Einheitliches darzustellen. In einer Demokratie geht es aber auch darum, Klarheit und Verständlichkeit zu sichern – die Klarheit von Alternativen und deren streitbaren Austrag.

Für Klarheit und Verständlichkeit steht aber auch SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht.
Ich glaube, dass Sigmar Gabriel der Politikstil von Frau Merkel nicht von vornherein unsympathisch ist. Das heißt, Gabriel entwickelt keinen demokratiepolitischen Widerwillen dagegen und findet diesen Stil, glaube ich, über Strecken nachahmenswert. Andererseits kann Gabriel durchaus argumentieren. Und seine Partei verlangt, ganz anders als die Konservativen, eigentlich Debatte, Argumentation und Theorie. Das ist die Tradition der SPD. Dem kann er sich nicht entziehen.

Wirklich?
Wenn man in der Exekutive ist, will man sich dem immer ein bisschen entziehen. Und der Schatten der mächtigen Kanzlerin ist sehr, sehr groß. Die SPD-Spitze traut sich nicht genug zu oder hat sich bisher nicht genug zugetraut, die Kanzlerin politisch herauszufordern.

Warum ist das so? Wegen der nach wie vor guten Umfragewerte für Merkel und die schlechten für die SPD?
Umfragen sind das eine. Aber zum Herausfordern gehört auch eine sehr grundsätzliche Überlegung zur Politik. Das ist nicht immer Sache der praktischen Politiker. Außerdem gibt es auch in der demokratischen Politik die Versuchung, den Menschen eher negative, unsolidarische Eigenschaften zu unterstellen als das Potential zum Positiven. Wenn Politik aber den Eindruck erweckt, dass sie sich nicht zutraut, Stimmungen oder Annahmen, die sie in der Bevölkerung mehrheitlich voraussetzt, infrage zustellen, dann werden genau diese negativen Vorstellungen und Stimmungen befestigt. Die großen politischen Entscheidungen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sind von den Akteuren in der Regel in dem Bewusstsein getroffen worden, dass die Mehrheit der Gesellschaft (noch) nicht dafür war. Das gilt für Konrad Adenauer, dessen Hauptziel die Westbindung war. Er wollte vermeiden, dass Deutschland neutral wird und zwischen Ost und West hin- und herschwankt. Es gab sehr viele in Deutschland, die eher das zweite gewollt hätten – auch bei der SPD gab es große Neutralitätsversuchungen. Und Willy Brandt hat ganz klar in mehreren Anläufen für die neue Ostpolitik kämpfen müssen.

Beide hatten Überzeugungen.
Ja, und beide hatten einen langen Atem und wussten, dass sie sich nicht einfach danach richten dürfen, was so in unreflektierten gesellschaftlichen Kreisen gedacht wird. Selbst Helmut Kohl hatte eine Überzeugung, nämlich die, dass die Europäische Union Vorrang vor allen kurzfristigen nationalen Interessen haben muss – oder anders herum: Dass die nationalen Interessen Deutschlands darin liegen, in einer zukunftsfähigen Europäischen Union zu leben. Bei Gerhard Schröder waren diese Überzeugungen nicht so explizit. Er war aber sehr explizit in der Ablehnung des Irakkriegs. Seine inneren Reformen sind umstritten und es gibt immer noch Gründe, sie umstritten zu finden. Aber Angela Merkel hat solche Vorstellungen eindeutig nicht. Und das ist das Problem. Kurzfristig gilt sie als die mächtige Kanzlerin. In Wahrheit wird man erst in fünf bis zehn Jahren merken, wie viel durch diesen Politikstil unterminiert worden ist.

Welche Überzeugung hat der Sozialdemokrat und Vizekanzler Gabriel?
Er hat Überzeugungen. Aber ich glaube nicht, dass die Stetigkeit seiner Werteorientierung so ausgeprägt  ist wie jene Willy Brandts. Seine Stärke war bisher nicht, seine sozialdemokratischen Motive,  kohärent umzusetzen. Und die akuten Zwänge, die für ihn als Parteiführer und Wirtschaftsminister nicht klein sind, nehmen ihn so in Beschlag, dass er die Frage der Längerfristigkeit einfach oft nicht bewältigt. Das ist sehr deutlich geworden bei der Griechenland-Politik. Deren langfristige Bedeutung einschließlich Syriza wollte er nicht zum Gegenstand seines Nachdenkens machen.

Warum? Weil er Angst hatte, in die ganz linke Ecke gestellt zu werden?


Ja, das ist ihm unheimlich. Sozialdemokratie will gern kontrollieren, immer schon, und ist immer noch ganz stark auf traditionelle Staatsvorstellungen orientiert. Und alles, was heute sehr viel komplexer ist mit Governance und NGOs und Bürgerbewegungen gilt bisher letztlich als dubios.

Die SPD im Bund hatte ja schon vor Gabriel keine rosigen Umfragen und Wahlergebnisse mehr. Das Spitzenpersonal überzeugt offensichtlich schon länger nicht mehr.

Sozialdemokratische Persönlichkeiten, die in der Innen- und Außenpolitik Grundorientierungen wie Brandt haben und das auch ausstrahlen, sind alle nicht mehr blutjung. Dazu gehören Jochen Vogel und Erhard Eppler. Egon Bahr und Helmut Schmidt leben ja nun nicht mehr. Sie alle haben existenzielle Erfahrung mit der Politik, mit Krieg gemacht. Wenn Sie das haben, werden Sie auch sehr grundsätzlich: Was ist jetzt unbedingt zu vermeiden, wo müssen wir unbedingt hinsteuern.

Gerade nach dem Tod Helmut Schmidts war deutlich zu sehen, wie sehr viele Wähler auch nach intellektuellen Politikern lechzen.  
Naja. Sie lechzen nach einer Autorität. Das ist Schmidt. Und das ist für mich sehr problematisch, um es ganz offen zu sagen. Es ist ja nicht so, dass Schmidt wirklich für offene argumentative Kommunikation stand.

Und was ist mit dem Spitzenpersonal der vergangenen Jahre, warum kommt das nicht so richtig in die Gänge?
Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. Denn auch deshalb wirkt die SPD im allgemeinen Verständnis so unattraktiv. Man hat nicht das Gefühl, da brodelts oder da kommt was, da kommen neue Ideen. Aber ich habe gerade in den letzten Wochen interessante Beobachtungen bei der sogenannten Basis gemacht. Da waren junge Leute, Sozialdemokraten, die sich bei Flüchtlingen engagieren und die hochintelligent sind, sprachfähig und flott denken. Man würde gar nicht meinen, dass es solche Typen in der SPD gibt.  Aber es gibt sie. Und wenn das mehr in der Öffentlichkeit wäre, würde die Partei enorm profitieren. Im Übrigen haben wir in der Regierung durchaus überzeugende Sozialdemokraten.

Was man aber sieht, ist ein Vizekanzler, der nicht unbedingt stark wirkt, auch wenn er polternd auftritt.
Interessante Unterscheidung. Man muss weniger heftig wirken, wenn man sich seiner Sache sicher ist.

Warum ist er das nicht? Er schwankt, auch in der Flüchtlingspolitik, und sagt zum Beispiel, die Menschen wollten sehen, „dass wir wieder Kontrolle über das Land zurückgewinnen“.
Viele fordern, und darauf will Gabriel antworten: Der Staat muss souverän sein, er definiert sich dadurch, dass er die Grenzen kontrollieren kann. Unsinn. Der Nationalstaat ist schon lange nicht mehr souverän. Schon lange nicht mehr. Das wissen wir doch: Wir hängen alle voneinander ab. Und jetzt plötzlich eine Unabhängigkeit eines in Europa und global integrierten Staates zu fordern – eine Art 17. Jahrhundert-Souveränität – ist doch Wahnsinn. Dass sich Politiker auf dieses Glatteis zerren lassen, ist sehr schade. Wir sollten offensiv argumentieren: Die Interdependenz aller Staaten ist doch nicht Gabriels persönliche Schuld.

Warum macht Gabriel das nicht?
Ich glaube, Politiker trauen der Verständnisfähigkeit der Menschen zu wenig zu. Ich glaube, dass Menschen viel mehr verstehen können. Außerdem ist diese Argumentation unser aller Aufgabe.

Trotzdem: Ein Eigentor?
Die Verführung von praktischer Politik liegt einfach in der Kurzfristigkeit. Die akut handelnden Politiker stehen heute unter sehr viel mehr Handlungsdruck als Adenauer und Brandt standen, auch wegen der Medien. Das Geschäft ist viel rauer geworden, viel schnelltaktiker, atemloser. Und die Medien haben vielfach für sich die Funktion definiert, selbst Politik machen zu wollen und nicht, Politik transparent machen zu wollen.

Die SPD steht seit längerem bei rund 24 Prozent. Wer soll sie wieder wählen?
Gabriel glaubt nicht, dass er Nichtwähler zurückgewinnt. Er baut darauf, Wähler aus dem CDU-Lager zu gewinnen. Das halte ich für falsch.

Weil das heißt, dass ein Teil der Deutschen einfach draußen belassen wird?
Ja, 22 bis 25 Prozent. Das ist eine große Auseinandersetzung, die man führen muss. Gabriel ist aber leider zur Rede von der Mitte zurückgekehrt.

Warum will Gabriel unbedingt in die sogenannte Mitte?
Ich glaube, dass viele Politiker mittlerweile denken: Mal ist die eine Partei-Maschine dran und mal die andere, ein bisschen wie im amerikanischen Parteiensystem. Und ich glaube, dass viele in der SPD nicht denken, eine radikal andere Politik machen zu müssen. Andernfalls wären sie doch motivierter. Hätten wir soziale Unruhen, würde die Sache natürlich anders sein. Karl Deutsch, Politikprofessor unter anderem in Harvard, definiert Macht als die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen. Ich sage gern: Macht ist die Möglichkeit, dumm zu bleiben. Denn wenn Sie Macht haben, brauchen Sie sich nicht anzustrengen. Aber die, die keine Macht haben, die in der Minderheit sind, die müssen lernen, die müssen nachdenken, Wege finden. Und die Linke muss prinzipiell lernen, so lange sie noch etwas verändern will. Das müssen die Rechten und die Konservativen nicht, die müssen einfach versuchen zu erhalten, was sie haben. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

Für wen ist die Sozialdemokratie da? Für den kleinen Mann? Den Aufsteiger? Die Mitte?
Für alle. Und prinzipiell für jene, die in einer freiheitlichen Gesellschaft immer wieder zu kurz kommen. Das ist fast unvermeidlich, weil Freiheit auch Unterschiede fördert. Immer wieder werden – zumal in einer globalisierten Marktwirtschaft – viele Menschen rausgeschleudert. Sind die aber dauerhaft draußen, funktionieren Demokratie und Markt nicht mehr richtig. Dafür ist die Sozialdemokratie da. Sie hat die Aufgabe, diese zurzeit mehr als 20 Prozent Nichtwähler gezielt anzugehen und sie nicht einfach aufzugeben.

Auf welche Themen müsste die SPD setzen?
Wir sind unter der unverzichtbaren Voraussetzung von Freiheit auf Gerechtigkeit und Solidarität spezialisiert. Die Sozialdemokratie hätte auch viel mehr kämpfen müssen um den Begriff der Solidarität, den die Kanzlerin systematisch diskreditiert hat mit ihrem „Solidarität ist keine Einbahnstraße“. So als ob Solidarität ein Gegengeschäft ist. Nein, das ist sie nicht. Wenn jemand jetzt richtig in der Kanne sitzt, dann muss man erstmal helfen. Unser Menschenbild sagt nicht: Wenn man Leuten hilft, werden sie noch fauler. Unser Menschenbild sagt: Wenn man Menschen hilft, wollen sie wieder allein auf die Beine. „Wenn man den Griechen hilft, machen die immer so weiter“ –  das darf eine Sozialdemokratie nicht akzeptieren. Weil das ihre Lebens- und Geschichtserfahrung ist.. Da mögen in der Vergangenheit viele Fehler begangen worden sein – in Deutschland  aber auch. Und ich finde, dass innenpolitisch die große Frage der Diskrepanz zwischen Arm und Reich noch stärker thematisiert werden muss.

Und wie?
Nicht, indem man einfach verkündet, Steuern erhöhen zu wollen. Sondern indem man sagt: Wir brauchen eine bessere Bildungs- und Wohnungsbaupolitik und eine Stabilisierung der sozialen Netze. Dafür brauchen wir Geld. Und wir brauchen vor allen Dingen eine ganz andere Europapolitik, da liegt der Schlüssel in Deutschland und hier wiederum bei der Sozialdemokratie – denn die Union wird sich nicht ändern. Die Sozialdemokratie könnte das. Da ist einfach nur die Angst vorm Wähler.

Und somit die Angst vor Angela Merkel?
Ich würde mir wünschen, dass die praktischen Politiker mehr Impetus hätten. Es ginge auch in einer großen Koalition zu sagen: ,Wir haben bestimmte Sachen unterschrieben, auch in der Europapolitik, wir halten sie aber eigentlich nicht für richtig.
Und die Machtverhältnisse sind so, dass wir unsere Ziele im Moment nicht durchführen können.’ Ich würde das ungeniert sagen, wenn ich es so meinte.

Dann käme aber sofort: „Warum habt ihr dann?!“
Ja, und die Antwort wäre: Weil die Politik so ist wie sie ist. Wenn man überhaupt Einfluss nehmen will, dann muss man manchmal das kleinere Übel nehmen. Oder sehr oft.  Aber das heißt: Wir müssen trotzdem unser Profil wahren. Ich bin doch nicht plötzlich inhaltlich ideell mitgehangen-mitgefangen mit der CDU. Wo kommen wir denn da hin!

Hofft die SPD darauf, dass Angela Merkel irgendwann einmal einfach weg ist, es keinen ernstzunehmenden Nachfolger gibt – und dann kommt die große Stunde für die Genossen?
Ich glaube, dass in der Spitze viele so denken, bin aber nicht sicher, ob das in der Partei so ist. Es ist auch sehr demotivierend, einfach abzuwarten. Ich befürchte, dass die SPD, wenn sie sich nicht anstrengt, wirklich als Regierungs-Alternative hier und jetzt zu fungieren, noch mehr demotiviert wird und ihre Wahlergebnisse noch schlechter werden. Im Übrigen: Die SPD kann nur an der Spitze von Rot-Rot-Grün regieren.

Da ist die SPD aber sehr zurückhaltend beim Thema Koalition mit der Linken.
Ja. Aber die Grünen und die Sozialdemokraten allein schaffen es nicht.

Erschienen in: Wiener Zeitung. 12/2015

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