„Nein, nein, diesmal haben wir keine Fahne. Zur WM wieder“ – Ibrahaim Bassal lächelt und wendet sich an einen Kunden. Bei der WM 2010 machten die Farben Schwarz-Rot-Gold den „Bassal Shop“ berühmt. Immer wieder kamen seither Fußballbegeisterte – einfach, um einmal da gewesen zu sein: vor dem kleinen Laden mitten in der Sonnenallee, einer dicht befahrenen Straße im Berliner Bezirk Neukölln, die gesäumt ist von Wettbüros, arabischen Schnellimbissen, Internetlokalen, türkischen Bäckern und Elektrogeschäften. „Bassal Shop“ bietet „günstig telefonieren und Prepaidkarten“, wie es auf dem Ladenschild am Eingang heißt.

Vor zwei Jahren hing hier vier Stockwerke hinab die größte Deutschland-Fahne Berlins: 17 mal 5 Meter. Überall wurde von „Bassal Shop“ berichtet, auch von der BBC, in der „Washington Post“ und im „Independent“. Den Journalisten erzählten die Bassals von ihrer Flucht aus dem Libanon vor sechzehn Jahren und wie sehr sie Deutschland seither dankbar seien. Und weil die deutsche Mannschaft sie so sehr begeistert habe, stellten sie nicht nur einen Fernseher auf den Gehsteig und schauten mit allen, die vorbeikamen, die Spiele, sondern ließen auch um mehrere hundert Euro eine Fahne schneidern – die kurz darauf von Linksautonomen zerstört wurde. Man gab eine zweite Fahne in Auftrag, schließlich eine dritte. Einmal war sie abgerissen worden, einmal angezündet: Die Fahne schüre den deutschen Nationalismus, erklärten die Täter. Diesen Vorwurf fanden die Bassals verrückt. Tag und Nacht hielten sie schließlich Wache. „Das Tolle daran war, dass uns die deutschen und die türkischen Nachbarn jedes Mal in ihre Wohnungen gelassen haben, damit wir die Fahne reparieren oder ersetzen konnten.“ Multikulti, das funktioniere hier, sagt Ibrahaim Bassal.
Welten mischen sich
Üblicherweise hat Neukölln einen zweifelhaften Ruf: viele Hartz-4-Empfänger, viele Migranten, steigende Mieten, zugezogene kulturaffine Studenten und Lifestylekids – Parallelwelten. Zu Zeiten von WM und EM mischen sich diese Welten stärker als sonst. Ein paar Meter von „Bassal Shop“ entfernt etwa wehen mehrere größere Deutschland-Fahnen über dem Eingang von „El-Salam. Shishalounge“, wo etliche junge Männer vor ihren Wasserpfeifen und einem Fernseher sitzen.
Auch Nazan Adas und ihr Mann Adnan haben einen Flachbildschirm vor ihrem Kiosk auf die Straße gestellt. Der Andrang ist enorm. Mehrere Dutzend junge, hippe Leute sind am Sonntag hier in der Hobrechtstraße nahe der Sonnenallee, um sich das Deutschland-Dänemark-Spiel anzuschauen. Die Adas stellten Bierbänke auf, borgten sich Sessel von den Nachbarn aus und reichen den Zuschauern Bierkisten, auf die sie sich setzen können. „Olé, Olé, Olé, Olé!“, ruft der sechszehnjährige Sohn Ender durch sein Megaphon. Die anderen Zuschauer lachen, manche singen nun auch mit.
Auch unter der Woche ist der kleine Laden der Adas ein beliebter Public-Viewing-Ort geworden. Viele der „Spätkaufs“ – von denen es in Berlin Hunderte gibt – bieten derzeit neben Bier, Limo, Chips, Gummibärchen, Zeitungen und Zigaretten auch einen laufenden Bildschirm. Das hebt den Umsatz der liebevoll „Späti“ genannten Geschäfte und verbessert das nachbarschaftliche Verhältnis. Die Adas aber haben zu EM- und WM-Zeiten besonderes Glück mit dem Standort: Der Gehsteig ist an einer Stelle vor dem Haus breiter, so haben viele Fans Platz. „Wir haben das schon die letzten Male gemacht. Die Fernseher wurden immer größer, die Zuschauer immer mehr“, sagt Adnan. Am Freitag wird es sich besonders drängen, wenn Deutschland gegen Griechenland (20.45 Uhr) um den Halbfinal-Einzug spielt. „Da haben wir einen Beamer.“ Geht das Geschäft auch besser als sonst? „Natürlich“, sagt Nazan. Die Adas arbeiten stets an sieben Tagen in der Woche: „Es reicht zum Überleben“, sagt Adnan.
Immer mehr Zuschauer
Seit 1980 wohnen sie in Berlin. Adnans Adas’ Eltern, die ursprünglich aus der Türkei nach Wien gekommen waren, fanden hier Arbeit. Die Gegend habe sich in den vergangenen Jahren sehr geändert, erzählen sie. „Es gibt immer mehr Studenten – und mehr WM- und EM-Zuschauer.“
Der Kneipenbesitzer gegenüber dürfte über den Rummel vor ihrem Kiosk nicht ganz so glücklich sein. Auch im „Raumfahrer“ – eine der neueren Kneipen – werden die Spiele übertragen. Und ähnlich voll ist es auch. Doch die Preise sind freilich höher als beim Späti. Der eine oder andere holt sich sein Bier also dort, auch wenn er im „Raumfahrer“ schaut. „Wir sind trotzdem gute Nachbarn“, sagt Adnan. Er habe den Besitzer des „Raumfahrers“ auch um sein Einverständnis gefragt, bevor er den Fernseher aufstellte.
Wer EM-Sieger wird? Frau Adas tippt auf Portugal oder Spanien, ihr Mann auf Deutschland. Er halte stets zu Deutschland, wenn die Türkei nicht dabei sei. „Hier“, sagt Adnan Adas und schenkt mir eine Trillerpfeife mit Fußballaufkleber. „Für Freitag.“
Die könnte man ein paar Straßen weiter nicht verwenden, jedenfalls nicht allzu oft. In der Emmauskirche auf dem Lausitzerplatz in Kreuzberg gibt es eine weitere Möglichkeit des Public-Viewing abseits des großen Fanmeilen-Getöses: Hier spielt Stephan Graf von Bothmer – „Deutschlands erfolgreichster Stummfilm-Pianist“ – zu Deutschland-Griechenland an der Orgel, „quasi ein Live-Stummfilm“, wie Bothmer sagt. Kantor Ingo Schulz hatte die Idee. Neben dem Altar ist eine Leinwand aufgebaut, es darf auch Bier getrunken werden. Der Eintritt ist frei. Hunderte fiebern bei jedem übertragenen Spiel in der Emmauskirche mit. Schrill sind Bothmers Töne bei Fouls. Dramatisch wird es bei brenzligen Situationen vor dem Tor. Und wohltuend klingt das Spiel, wenn endlich das Tor auf der Seite Deutschlands gefallen ist. Immer wieder habe es in der Vergangenheit Zuschauer gegeben, die ihm „Spiel schneller!“ zugerufen hätten, sagt Bothmer – ganz so, als ob dann die deutschen Fußballer schneller laufen würden.
Erschienen in: Wiener Zeitung, 06/2012