Klage gegen SOS Balkanroute abgewiesen – Richter: „Umso mehr der Verdacht besteht, dass etwas schief läuft, umso mehr braucht es Leute, die hinschauen“

Am Wiener Handelsgericht sind am Dienstagabend die Klagen gegen die NGO SOS Balkanroute und deren Gründer Petar Rosandić abgewiesen worden. Geklagt hatte das in Wien ansässige Internationale Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD) wegen des Wortes „Guantanamo“. Rosandić hatte so eine Internierungsanstalt innerhalb des bosnischen Flüchtlingslagers Lipa bezeichnet. Der Bau wurde von ICMPD errichtet. Leiter des ICMPD ist der frühere Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP).

ICMPD-Anwältin Ulrike Zeller kündigte an, Berufung einzulegen. Richter Andreas Pablik sagte, er habe den Vorwurf hinsichtlich des Wortes „Guantanamo“ geprüft. „Ich sehe die Grenze nicht als überschritten an, ich gehe davon aus, dass das durchaus von der EMRK gedeckt ist“, berief er sich auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Freiheit auf Meinungsäußerung. „Offensichtlich rennt einiges schief“, sagte Pablik in Bezug auf das Thema Flucht und Migration. „Umso mehr der Verdacht besteht, dass etwas schief läuft, umso mehr braucht es NGOs oder auch staatliche Stellen. Es bedarf Diskussionen und Leute, die hinschauen, und die möglicherweise überschießend reagieren.“

Der Prozess fand unter großem öffentlichen Interesse statt. „Für alle, die nicht täglich an Zivilprozessen teilnehmen: Normalerweise sitzt hier kein Mensch“, sagte Richter Pablik zu Beginn. Im Verhandlungssaal fanden 60 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz. Etliche mehr waren ins Handelsgericht gekommen und warteten offensichtlich die gesamte Zeit – vier Stunden lang – auf das Ende des Prozesstages. Nach der Urteilsverkündung tönte ihr Jubel in den siebten Stock hinauf.

Der Richter habe klar gemacht, dass „ein großzügiger Raum für Kritik besteht, dass man auch einmal zugespitzt formulieren darf“, sagte anschließend Anwältin Maria Windhager, die die NGO und Rosandić vertritt. ICMPD hatte eine Unterlassungserklärung des Wortes „Guantanamo“ gefordert und einen Widerruf. „Dieses eine Wording war zu viel“, so ICMPD-Anwältin Zeller in der Verhandlung über Aussendungen und Tweets der NGO. Man könne ja weiter kritisieren, „aber anders“. Das widerspreche dem Kern der Meinungsfreiheit, konterte NGO-Anwältin Windhager.

In der Verhandlung ging es auch um die Frage, welchen Zweck der von ICMPD errichtete Bau innerhalb des Lagers habe – er ist noch nicht in Betrieb. Während die Organisation von einer Kurzzeiteinrichtung für Geflüchtete spricht, die andere Campbewohner gefährden, weist die NGO diese Darstellung zurück: Die meisten Geflüchteten blieben nur wenige Tage im Camp, der Lagerleiter habe zudem von keinen diesbezüglichen Problemen berichtet. SOS Balkanroute geht von einer „Abschiebehaftanstalt“ aus. Dieser Streitpunkt konnte nicht geklärt werden.

Richter Pablik hob in der Verhandlung hervor, dass viel davon abhänge, „welche geistigen Bilder auftauchen, wenn man das Wort Guantanamo hört“. Er verbinde damit, dass „jemand ohne faires Verfahren und ohne richterliche Entscheidung irgendwo eingesperrt wird, irgendwo anders hinverfrachtet wird“. Man könne sich die Frage stellen, warum die EU gerade in Bosnien-Herzegowina ein Flüchtlingslager baue. „Der Gedanke, dass man die Leute wegbekommt, drängt sich bei Guantanamo auf.“ Er sehe zudem keinen Ansatzpunkt eines Vorwurfs von SOS Balkanroute gegenüber ICMPD, dass die Organisation in Folter involviert sei; alles, was in Richtung Vorwurf gegen Gewalt gehe, sehe er gegen Kroatien.

Dass das Nachbarland Kroatien Asylsuchende mit Gewalt nach Bosnien-Herzegowina zurückdrängt, ist seit langem bekannt und dokumentiert. Mit diesen sogenannten Pushbacks verstößt das EU-Land gegen geltendes Recht wie die EU-Grundrechte-Charta und die Menschenrechtskonvention: Menschen haben das Recht, einen Asylantrag zu stellen, der anschließend geprüft wird. ICMPD hatte SOS Balkanroute vorgeworfen, dass „der Leser vor dem Hintergrund der Gesamtheit der Darstellung“ den Eindruck gewinne, ICMPD „stünde unmittelbar im Zusammenhang mit Pushbacks an der kroatischen Grenze“, „verantworte und/oder beauftrage“ diese oder „profitiere gar“ davon.

Auf die Überlegung des Richters, dass eigentlich die EU im Fokus der Kritik stehen müsste und nicht der Baumeister der Internierungsanstalt, antwortete Anwältin Windhager, die Organisation spiele ihre Rolle herunter, sie sei Policy-Maker im Bereich Migrationspolitik. Windhager hatte vor dem Prozess zudem von einer „SLAPP-Klage wegen unliebsamer Kritik“ gesprochen. SLAPP steht im Englischen für „Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“. Bewusst auch durch die zweite Klage gegen Rosandić persönlich sollen „die Beklagten offensichtlich eingeschüchtert werden“.

Auch auf diesen Punkt ging der Richter in seinem Urteil ein: Die Klägerin sei keine natürliche Person und auch nicht „irgendeine juristische Person“, sondern von internationalen Staaten hervorgebracht. „Man kann auch argumentieren, da tritt ein Privater fast einer Staatenorganisation entgegen.“ Dennoch bestehe das Recht, sich an Gerichte zu wenden.

ICMPD wurde 1993 von Österreich und der Schweiz gegründet und hat mittlerweile 20 Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, Portugal, Schweden und Ungarn. In der Selbstbeschreibung heißt es, „ihr Ansatz zur Migrationssteuerung – die strukturelle Verknüpfung von Politik und Forschung, Migrationsdialogen und Kapazitätsaufbau – trägt zu einer besseren Entwicklung der Migrationspolitik bei“. Nach eigenen Angaben finanziert sich die Organisation über Beiträge ihrer Mitgliedsländer, über Zuwendungen der EU-Kommission, der UNO und weiteren Organisationen sowie bilateralen Geldgebern.

APA/2023-07-18

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