Ulrich Thielemann: „Und wo bleibt jetzt die Freiheit?“

Herr Thielemann, der Finanzbranche fehlt es an Moral, meint unter anderem der deutsche Bundespräsident Horst Köhler. Ist die Krise eine Frage der Moral?

Ulrich Thielemann: Ja und Nein. Ja, weil die Banker und auch die Investoren schon seit einiger Zeit extrem gierig sind. Und so wurden in den Unternehmen Systeme der Gier installiert. Durch Bonussysteme nämlich. So wurde die Gier der Angestellten häufig erst entfacht. Es wurden jedes Mal satte Boni dafür eingestrichen, wenn vollkommen überbewertete Papiere gekauft oder verkauft wurden. Keinesfalls ist diese Sache aber als ein „Versagen einzelner“ abzutun. Das war eine Art Deal zwischen Management, einschließlich managementnaher Mitarbeitern, und Kapital: „Wir erwirtschaften Milliarden für euch, mit welchen Deals auch immer, und davon gebt ihr uns ein paar Milliönchen ab.“ Das Ganze hatte also System. Aber es gab da durchaus auch einzelne Mitarbeiter, die Skrupel hatten. Ihre Bedenken wurden im Bonusregen erstickt.

Unser Wohlstand beruhe auf Gewinnstreben, auf Gier. Man könne aber im Wettbewerb gar nicht anders, weil man sonst vom anderen gefressen wird, sagt Ökonom Homann.

Karl Homann, der einen Lehrstuhl für Wirtschafsethik hat, hat erkannt, dass die ökonomische Theorie eine normative oder eben ethische Botschaft hat. Und die lässt sich mit Max Frisch prägnant in der Formel fassen: „Vernünftig ist, was rentiert“. Das ist der Ökonomismus, der Glaube, dass das „unbändige Vorteilsstreben“, welches Karl Homann verteidigen möchte, letztlich dem Wohl aller dient. Das ist eine ethische Position, aber eine solche, die sagt: „Wir brauchen nicht den Willen zur ethischen Vernunft, sondern wir brauchen mehr Gier.“ Nur kommt leider dabei nicht die ethische Vernunft heraus, sondern das Recht des Stärkeren.

Ist die Krise eine Frage der Geschäftsinteressen?

Es ist eine Frage der Kapitalverwertungsinteressen, die die Unternehmen beinahe vollständig dominiert haben. Das war früher nicht so. Noch vor 10, 20 Jahren ging es vor allem darum, wie man das Unternehmen gut führt, wie man etwa die Produktqualität steigern kann. Der Shareholder Value spielte überhaupt keine Rolle. Natürlich ging es schon auch darum, wie sich die Umsätze steigern lassen. Kostensenkungen waren aber nur in Krisenzeiten ein Thema. Kurzum, das Unternehmen war nicht einfach Instrument des Kapitals. Die Marktwirtschaft hat sich dann aber zum Kapitalismus gewandelt.

Aber hinter „dem Kapital“ stecken ja einzelne, die mehr oder weniger richtig handeln.

Eher weniger als mehr, würde ich sagen. Da gab es eine Zeitenwende: weg von der sozialen Marktwirtschaft. Das ist immer weiter eskaliert. Und jetzt ist das Ding ex- oder implodiert.

Das klingt nach guter, alter Zeit, vor Reagan und Thatcher…

Es liegt nicht an mir, vergangene Zeiten zu verklären. Ob aber die Lebensqualität zugenommen hat, obwohl jeder von uns im Durchschnitt so in etwa 60 Prozent mehr konsumieren kann, das kann man schon fragen – abgesehen davon, dass der Wohlstand immer ungleicher verteilt ist. Das Einkommen etwa der US-Arbeitnehmer, auf die Stunde berechnet, ist seit 30 Jahren praktisch gleich geblieben. Und das Leben ist stressiger geworden. Wir leben ein zunehmend „unternehmerisches“ Leben. Und dies alles nur, weil wir sonst den Absturz befürchten müssten. Die Staaten agieren wie Unternehmen und buhlen um’s Kapital, damit dieses nur ja keine Arbeitsplätze vernichtet. Wo bleibt da eigentlich noch die Freiheit, die doch die „freie“ Marktwirtschaft versprochen hatte? Ich denke, man kann hier schon von einer Fehlentwicklung sprechen.

Jetzt werden Spielregeln gefordert, aber wer bestimmt das Level des richtigen Handelns?

Das ist ein politischer Prozess, die „allgemeine Menschenvernunft, in der ein jeder seine Stimme hat“, wie es Kant formulierte. Und darin stecken wir ja gerade, etwa wenn Sarkozy eine „Neufundierung des Kapitalismus auf ethischer Basis“ fordert. Aber auf welcher Basis genau? So ziemlich allen ist aber klar, dass sich Spielregeln auf der Ebene der globalen Wirtschaft zu erstrecken haben, weil ja auch die Wirtschaftsziehungen global sind. Bei Angela Merkel hat sich da ein ganz erstaunlicher Wechsel vollzogen: Der Markt muss „gestaltet“ werden, sagt sie, ja sie spricht von der „dienenden Funktion“ der Märkte – ganz im Gegenteil zu Alan Greenspan, der sagt, es ist egal, wer Präsident wird. Die Märkte regieren eh die Welt und die Politik hat gar keinen Spielraum. Und da ist was dran, aber nur, solange die Politik das mitmacht. Dies aber ändert sich gerade.

Entdeckt man Moral immer dann, wenn gerade alles den Bach runter geht – oder man das zumindest glaubt?

Der Philosoph Manfred Riedel sagt, Ethik kommt als Krisenreflexion auf den Weg. Die Krise besteht aber schon seit längerem. Im Moment erleben wir eher ihr Fanal.

Finanzminister Steinbrück spricht von der „Verantwortung der Eliten für die soziale Balance“, die Krise heizt die Debatte über Managergehälter an, in der es stets um „Gerechtigkeit“ geht. Wie findet man die?

Viele Manager glauben ja, sie allein hätten die Wertschöpfung erwirtschaftet. Und wenn das Milliarden sind, ist man mit Millionen eigentlich doch unterbezahlt, oder? Das ist natürlich eine groteske Vorstellung. Und bei den Banken kann man sich auch fragen: Wo kommt denn das Geld her? Wurden die Gewinne vielleicht erzielt, indem man andere abgezockt hat? Natürlich darf man solche Fragen stellen. Und dann wird klar, dass der „Erfolg“ eines Unternehmens nicht so ohne weiteres den Maßstab dafür bilden kann, was denn angemessene Managervergütungen sind.

Und wo ist Schluss?

Das kann ich als als Wirtschaftsethiker nicht dezidiert sagen. Ich kann keine Obergrenze dekretieren. Einkommen werden stets arbeitsteilig erwirtschaftet, auf betrieblicher wie auf volkswirtschaftlicher Ebene. Niemand erzielt sein Einkommen allein. Andere haben mitgeholfen, andere haben gezahlt. Darum sind allzu großen Einkommensunterschieden ethische Grenzen gesetzt. Millionenboni und Milliardengewinne – kann die ein einzelner erwirtschaftet haben? Ist das leistungsgerecht? Da lässt sich irgendwann wohl eher von Abschöpfung als von Wertschöpfung sprechen.

Ulrich Thielemann, geb. 1961, ist Vizedirektor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Uni St. Gallen.

Erschienen in: Falter

Datum: 10/2008

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