Modern, familienfreundlich, cool: So präsentiert sich die Bundeswehr nach außen. Doch während die deutsche Armee verzweifelt nach Personal sucht, wird ein neuer Skandal bekannt: In einem ihrer Ausbildungszentren – der Staufer-Kaserne in Süddeutschland – misshandelten Soldaten Kameraden, machten davon Fotos und filmten die Gewalttaten.
Im Verteidigungsministerium ist man schockiert, berichtet das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. In einer Unterrichtung an das Parlament heißt es demnach, die Ausbildung sei „unangemessen“ gewesen „hinsichtlich des Gebots zur Achtung der Würde des Menschen, der sexuellen Selbstbestimmung und des Schamgefühls“.
Ein weiblicher Leutnant meldete die Vorfälle dem Wehrbeauftragten und der Verteidigungsministerin. Rekruten hätten sich nackt ausziehen müssen, laut „Spiegel“ wurden sie dabei von Ausbildnern gefilmt. Tampons seien in den After männlicher und weiblicher Soldaten eingeführt worden. Rekruten hätten andere an Sessel gefesselt, wo die Kameraden stundenlang geblieben und mit Wasserschläuchen abgespritzt worden seien.
Immer wieder werden Gewalt-Exzesse in der Bundeswehr bekannt – vor sieben Jahren etwa die Aufnahmerituale der Gebirgsjäger in Mittenwald, Bayern. Soldaten quälten Kameraden und zwangen sie, rohe Schweineleber zu essen und bis zum Erbrechen Alkohol zu trinken. Vor sechs Jahren berichtete der Wehrbeauftragte von den Zuständen auf der Gorch Fock, dem Schulschiff der Marine: Ein Offiziersanwärter musste demnach das Erbrochene der Offiziere von Deck wegputzen, ein Soldat sprach über sexuelle Nötigung, andere schilderten Besäufnisse auch der Vorgesetzten.
Warum sind solche Taten kein Einzelfall? Und wie kommt es überhaupt zu solch „abstoßenden und widerwärtigen Vorgängen“ wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) den soeben bekannt gewordenen Skandal nennt?
Initiationsriten sind vermutlich in allen Kulturen zu finden – wenn man dazugehören will, muss es weh tun. „Oder zugespitzt formuliert: Man wird kein Mann, wenn man nur ein bisschen viel Popcorn ist. Die Härte und der Sadismus, der mitunter in Initiationsriten steckt, zeigt sehr anschaulich der Film „Full Metal Jacket“. Weniger martialische Initiationsriten gibt es beispielsweise auch in Betrieben. Denken Sie an das Sprichwort „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, man leidet, um später dazuzugehören“, sagt der Berliner Psychologe Jörg Otto.
„Die Voraussetzung für aggressives Verhalten ist in unserem genetischen Erbgut mitangelegt. Wut, Angst, Freude und Trauer sind universelle Grundemotionen. Weshalb die Aggression in manchen Situationen derart aus dem Ruder läuft, kann viele Ursachen haben. Und Übergriffe, Grenzverletzungen, Gewalt passieren meines Erachtens dort besonders leicht, wo es starre Hierarchien gibt, räumliche Enge, ein abgeschlossenes System“, sagt Otto. „Gruppen neigen mitunter dazu, den Bezug zur Realität zu verlieren und Entscheidungen zu treffen, die realitätsferner oder – salopp gesagt – dümmer sind als Entscheidungen einzelner.“
Aufschaukeln in der Gruppe
Dieses Phänomen – „Groupthink“ oder „Gruppendenken“ – erforscht die Sozialpsychologie. Demnach passt man sein Denken dem angenommen Gruppendenken an und schaukelt sich dann als Gruppe zu etwas hoch, das man als einzelner so nicht unterstützen würde. „In engem Kontakt zu anderen wird man beeinflussbarer, man vernachlässigt mitunter das eigene Denken oder ignoriert warnende Gefühle, auf die man vielleicht gehört hätte, wenn man allein gewesen wäre“, sagt Psychologe Otto. „Eine Gruppe wird zu einer Art eigenem Organismus. Man könnte zum Beispiel an den Fußballfan denken, der allein ganz lieb ist und dann zusammen mit anderen zum Teil eines pöbelnden Mob mutiert.“
Der Sozialpsychologie ist das Phänomen nicht neu. In den 1960er und 1970er Jahren wurde viel zu Gruppendenken und Gehorsam geforscht und dabei festgestellt, dass auch an sich unauffällige Personen zu grenzüberschreitendem oder gewalttätigem Verhalten verführbar sind. In seinem berühmten Experiment gab der Psychologe Staney Milgram 1961 vor zu untersuchen, ob der Lernerfolg durch Bestrafung steige. Bei Fehlern sollten „Lehrer“ – normale Personen, die aber ohne es zu wissen die eigentlichen Versuchspersonen waren – Schülern Stromstöße verpassen. Die „Schüler“ waren indes Schauspieler. Viele der „Lehrer“ hinterfragten diese gewaltvolle Methode nicht oder nur unzureichend – vielleicht, um nicht aufzufallen, aus Angst, vielleicht, weil sie Druck verspürten.
„Beurteilt man ein bestimmtes Verhalten in einer Gruppe als normal, akzeptiert man es auch selbst eher. Werden in einer Gruppe beispielsweise Menschen gequält, steigt also auch die Chance, passiv oder aktiv dabei mitzumachen. Das heißt nicht, dass zwangsläufig alle mitmachen“, sagt Psychologe Otto.
Neben dem Gruppendenken gibt es eine weitere mögliche Ursache für Gewalttaten: Die psychiatrische Diagnostik kennt einen bestimmten Persönlichkeitstyp, der als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ geführt wird. Eine solche Persönlichkeitsstörung beginnt in der Kindheit oder in der frühen Jugend und dauert bis ins Erwachsenenalter an.
Manche Menschen weisen aber auch eine dissoziale Seite auf – ohne aber eine voll ausgeprägte Persönlichkeitsstörung zu haben. „Es ist möglich, dass Menschen mit einer solchen Seite in einer extremen Situation, einer belastenden Lage oder weil sie viel Macht haben grenzüberschreitendes, sadistisches Verhalten zeigen, das sie sonst nicht zeigen würden“, erläutert Otto.
Auf Kosten anderer wertet man sich demnach selbst auf. Man kränkt und demütigt, weil man selbst gekränkt oder gedemütigt wurde. Als besonders anfällig gelten Personen, die eine Anerkennung nicht bekommen, die sie sich gewünscht hätten. „Das soll gewalttätiges Verhalten nicht entschuldigen“, sagt Psychologe Otto.
Im aktuellen Bundeswehr-Skandal ermittelt nun die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung, der gefährlichen Körperverletzung, Nötigung und wegen Gewaltdarstellungen.
Erschienen in: Wiener Zeitung
01/2017