Herr Benz, der Spiegel fragte kürzlich zu John Demjanjuk und dessen Beihilfe zum Mord an 29.000 Juden in Sobibór: „Wie geht Deutschland um mit einem Mann, der erst im Zuge des deutschen Staatsverbrechens zum Täter wurde? Was ist die gerechte Strafe für einen Handlanger, der sich als Kriegsgefangener in die Dienste der SS stellte, um nicht wie Millionen seiner Kameraden in deutschen Lagern zu krepieren?“ Wie sehen Sie diesen Fall?
Wolfgang Benz: Die Entscheidung, als Hilfstüchtiger der SS einzutreten, anstelle im Kriegsgefangenenlager möglicherweise zu Grunde zu gehen, ist subjektiv nachvollziehbar. Aber: In den Berichten Überlebender von Sobibór, Belzec, Treblinka kommen die von der SS rekrutierten Helfer als besonders übel und grausam hervor. Die SS hat immer diesen die miese Arbeit überlassen: Die mussten den Gefangenen die Kleider vom Leib reißen, bevor es in die Gaskammern ging. Aus den Berichten aber muss man schließen, dass die Helfer das alles mit einer besonderen Lust taten, dass die wüteten und tobten. Ob Demjanjuk im Kriegsgefangenenlager nicht verrecken wollte und deshalb zum Vollstrecker wurde, das kann er dem Gericht vorbringen. Und das Gericht muss dann abwägen.
Demjanjuks Verteidiger argumentiert auch mit dem gesundheitlichen Zustand des 89-Jährigen. In Österreich war es zuletzt der Fall des „Euthanasie“-Arztes Heinrich Gross, bei dem das Alter eine wichtige Rolle spielte: Die Verhandlung wurde vertagt und nicht wieder aufgenommen.
Es kann niemals von Interesse sein, ob jemand dick oder dünn, groß oder klein, alt oder jung, gesund oder krank ist. Denn es kommt auf die Tat an. Wenn jemand an 29.000 Morden mitbeteiligt war, kann sein Alter, sein Gesundheitszustand überhaupt keine Rolle spielen. Hier geht es um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates.
Spielt politische Verantwortung eine Rolle?
Demjanjuk war ein kleines, armseliges Rädchen im Getriebe, der wusste, dass im Hintergrund die SS war. Der war als Mordgehilfe angeheuert und angestellt worden. Und darüber ist zu befinden. Dabei ist es relativ unerheblich, ob er lebenslänglich im Gefängnis sitzen wird – und wir haben ja Gott sei Dank einen humanen Strafvollzug. Es kommt auch nicht darauf an, ob er bei Wasser und Brot schmachtet sondern, dass die Tat festgestellt wird.
Nochmals zurück zum Spiegel, der erklärt: „Wie soll die deutsche Justiz eine Verurteilung Demjanjuks begründen, wo doch 1966 zahlreiche SS-Leute aus Sobibór freigesprochen wurden?“ Kann denn eine Tat mit dem Hinweis darauf, dass eine andere nicht verurteilt wurde, einfach ad acta gelegt werden?
Es ist außerordentlich bedauerlich, dass SS-Leute aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden sind. Der Fall Demjanjuk aber muss nach den Regeln des Rechtsstaates untersucht werden, man kann ja nicht sagen, nur weil in Deutschland und Österreich eine ganze Menge Täter freigekommen sind, darf man die anderen auch nicht verurteilen. Das erinnert mich an das Schulmädchen, das zu spät kommt und sagt, aber die Anneliese ist ja auch zu spät.
Warum hat das Simon-Wiesenthal-Zentrum Demjanjuk zur Nummer eins der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher gemacht?
Das ist beliebig. Das ist, als würde ein Verlag das Etikett „Sachbuch des Monats“ auf Bücher kleben. Demanjuk ist eben einer der Letzten, die noch am Leben sind. Dabei geht es um keine Hierarchie.
Der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, wundert sich über das Interesse, das dem Fall entgegen gebracht wird. Wundern Sie sich auch?
Der Oberstaatsanwalt hat Recht, Demjanjuk ist eine armselige Kreatur. Von ein paar Tausend, die übrig geblieben sind, ist er ins Scheinwerferlicht gekommen. Er ist nicht die Inkarnation des Bösen in der Welt. Aber plötzlich widmet auch die Bildzeitung Demjanjuk eine ganze Seite. Vor einigen Jahren noch war Demjanjuk in der Öffentlichkeit weiter nicht bekannt. Heute weiß man, der ist irgendwie ein Nazi, der schon mal in Israel vor Gericht stand – also muss das unglaublich wichtig sein. Demanjuk ist als Person unwichtig, aber der Fall, dass man 2009 eine solche Tätergeschichte vor Gericht bringt, ist unglaublich interessant.
Wie geht man nun rechtlich mit einem mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher wie Demjanjuk um?
Das ist eine stinknormale Mordsakte. Also, ein Mordsfall mit unglaublich vielen Toten, und der muss nach Strafgesetzbuch verhandelt werden.
Wolfgang Benz, geb. 1941, Zeithistoriker, leitet das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.
Erschienen in: OÖNachrichten
Datum: 05/2009