Breaking the Silence: „Die Besatzung zerstört unsere Zukunft“

Geht es um die Wahl in Israel, sieht Ori Givati keinen Anlass für Optimismus. Givati ist israelischer Staatsbürger, ehemaliger Angehöriger der Armee und seit 2017 Teil von Breaking the Silence und mittlerweile deren Leiter. Die Organisation israelischer Soldatinnen und Soldaten berichtet von Einsätzen in den besetzten Gebieten, überprüft und dokumentiert Zeugenaussagen von Armeeangehörigen über Missstände und führt Interessierte ins Westjordanland.

Die Wahl sei „superwichtig“, sagt Givati im Gespräch mit der APA. „Und ich hoffe, dass es mehr Menschen in der nächsten Regierung geben wird, die gegen die Besatzung sind.“ Im Wahlkampf – und auch sonst – habe es aber „leider“ keine Diskussion darüber gegeben. Wer heute das Wort „Besatzung“ in den Mund nehme, werde als radikal links verunglimpft. Deshalb hielten sich Politikerinnen und Politiker zurück, sie wollten ja schließlich wiedergewählt werden, sagt Givati. „Aber das Thema ist so wichtig für unsere Zukunft.“

Die israelische Gesellschaft sei „voller Hass, besonders gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern, und gegenüber allen, die nicht jüdisch“ seien. „Die Besatzung zerstört unsere Zukunft.“

Ori Givati war Panzerkommandant während seines Militärdienstes von 2010 bis 2013. Das letzte Mal in den besetzten Gebieten sei er 2016 als Reservist gewesen, berichtet er. 2017 begann Givati für Breaking the Silence zu arbeiten und recherchierte Zeugenaussagen anderer Soldatinnen und Soldaten. Die Berichte kann man auf der Webseite der Organisation nachlesen. Breaking the Silence bietet außerdem ein bis zwei Touren pro Tag in die besetzen Gebiete an. Per Bus geht es beispielsweise nach Hebron – das Araberinnen und Araber als „Al Khalil“ kennen. Es gibt Vorträge, Filme, Theaterstücke, Gespräche und Social-Media-Aktivitäten.

Die Organisation – auf Hebräisch Shovrim Shtika – ist umstritten und wird angefeindet: Beschimpft von den einen als eine Art Vaterlandsverräter, kritisieren andere die anonymen Zeugenaussagen. Die Organisation erklärt die Anonymität mit der Furcht etlicher Israelis, als Feind wahrgenommen zu werden. Und zum Hass, der Breaking the Silence entgegenschlägt, sagt Givati: „Ich habe die Verantwortung, etwas zu tun.“ Im Militärdienst höre man auf, Palästinenserinnen und Palästinenser als menschliche Wesen zu sehen.

„Palästinenserinnen und Palästinenser sind mein Ziel als Soldat. Und ich weiß, ich kann tun, was ich will.“ Ja, man könne im Militärdienst „Nein“ sagen – aber dann werde man bestraft. „Das ist das Militär, man hat Befehlen zu gehorchen“, erklärt er. Die Menschen, die Militärdienst leisteten, seien mit 18, 19 Jahren sehr jung. „Und wir wachsen auf und bekommen unser gesamtes Leben lang gesagt, dass wir unsere Gesellschaft, unseren Staat beschützen müssen, dass es sich um die moralischste Armee auf der Welt handelt.“ Es gebe kaum jemanden im Militärdienst, der das hinterfrage oder sich dagegen stelle. Das komme erst später, wenn man Abstand zu den Einsätzen habe.

Nach der Wahl erwartet er keine Verbesserungen. „In den vergangenen 1,5 Jahren haben Gewalt, die Zerstörung von Häusern, die Landnahme, Tötungen und Verhaftungen zugenommen. Da war nicht Benjamin Netanyahu.“ Warum darüber, wie Givati sagt, nicht gesprochen wird? „Die Menschen wollen es nicht wissen, es ist einfacher für sie, über uns nachzudenken, über den öffentlichen Verkehr oder die Wohnungspreise. Die Besatzung ist weit weg. Ich sehe sie hier in Tel Aviv auch nicht. Ich sehe eine wunderschöne Stadt mit einem großartigen Lifestyle. Die Israelis sind auch nicht betroffen von der Besatzung. Natürlich, jeder kennt jemanden, der unter palästinensischen Angriffen leiden musste. Aber die meisten waren nie in Hebron oder in anderen Orten des Westjordanlandes.“

Givati appelliert an die internationale Gemeinschaft, nicht zu schweigen. „Ja, würde man etwas gegen die Politik in der Westbank oder in Gaza sagen, hieße es, man sei gegen Israel. Wir von Breaking the Silence aber sagen: Helfen Sie uns, die Besatzung zu beenden. Denn diese Situation wird in unseren Gesichtern explodieren.“

Schätzungen zufolge sind laut Givati fünf bis acht Prozent der Israelis gegen die Besatzung. 20 Prozent der israelischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind Palästinenserinnen und Palästinenser und damit ebenfalls gegen die Besatzung. „Das sind fast 30 Prozent. Und wir arbeiten weiter sehr hart daran, dass sich in der Gesellschaft etwas ändert, wir arbeiten für Menschenrechte, Frieden und Freiheit.“

Erschienen in: APA 11/2022

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