Istanbul: „Wir sind längst in der EU“

„Natürlich“, sagt der junge Mann. „Natürlich soll die Türkei EU-Mitglied werden. Aber ihr fürchtet euch vor der Türkei, ihr wollt sie nicht.“ Dabei seien die Türken in der Türkei anders als die meisten von denen, die Europa einst als Arbeitskräfte geholt haben, „fortschrittlicher“. Ismael handelt mit Teppichen, ihm gehört ein Geschäft im Großen Basar in Istanbul. „Ihr braucht uns“, sagt er: Europa altere, die türkische Bevölkerung hingegen sei jung. Gleichzeitig könne die Türkei von der EU lernen, bei Menschenrechten, in der Kurdenfrage. Wirtschaftliche Interessen seien hingegen nicht das wichtigste Argument für einen Beitritt. Viel wichtiger ist es laut Ismael, „Uncle Sam“ nicht zu stark werden zu lassen, die mächtigen USA: „Wenn die eine türkische Regierung nicht wollen, ist sie weg.“

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„Wir sind Armenier“, sagt der 51-jährige Mann, den die Fähre zu einer der Prinzeninseln bei Istanbul bringt. Im Sommer wohnt er dort mit seiner Familie in ihrem Haus. Aleks hat eine Metallfabrik mit zwölf Mitarbeitern. Er hat sie von seinem Vater übernommen. „Hier in Istanbul leben 20 Millionen Menschen“, sagt er und schaut aufs Meer. Viele seien in den vergangenen Jahren aus Anatolien gekommen. Aleks verzieht das Gesicht. Er hat Bedenken wegen seiner Stadt und wegen der EU: „Islam“, sagt der Armenier. Für die Minderheit, der er angehört, sind die Massaker zwischen 1915 und 1918 wichtiges Thema. Seit damals lebt nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen armenischen Bevölkerung in der Türkei. Trotzdem: „Probleme gibt es heute nicht mehr zwischen Moslems und Armeniern, sondern zwischen dem Osten und dem Westen der Türkei.“ Für die türkische Wirtschaft wäre laut Aleks ein EU-Beitritt von Vorteil. Er zieht in der Luft Zick-Zack-Linien. Ständig gehe es bergab, bergauf. Diese Wechselkurse! „Wie soll man da Geschäfte machen?“

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Auf dem Taksim-Platz steht eine Kirche. Buntes Treiben, wie es im Reiseführer heißt, ist zu niedrig gegriffen für das, was sich im Bezirk Beyoglu abspielt. Menschenmassen schieben sich mit Ausnahme weniger Nachtstunden durch die Istiklal, die moderne Einkaufsstraße. Beyoglu: eine Mischung aus westlichen Geschäften, Künstlerviertel, in den Seitengassen wird Cay – türkischer Tee – getrunken und Tavla -Backgammon – gespielt. Es ist laut. Mitten drinnen ein Ruhepol. Die griechisch-orthodoxe Kirche ist von einem Garten umgeben. Unter alten Bäumen sitzen Kamil, der Mesner, und seine Familie und Freunde. Einer davon ist Mikail, der 15 Jahre lang in Stuttgart gelebt hat. Nun ist er zurückgekommen. Seine Frau ist noch in Deutschland. Seine Söhne bleiben dort. Hierher kämen sie nur als Touristen. „Welche Erfahrungen habt ihr mit der EU gemacht?“, fragt Mikail und bietet Cay an, Oliven, Gurken, Tomaten, Brot und Kuchen. Die EU sei hier „natürlich“ ein Thema. „Aber bis wir beitreten, das dauert“, sagt Mikail. „Mindestens noch zehn Jahre.“

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„Ein Thema wird in der Diskussion um den EU-Beitritt nie erwähnt“, sagt Sedat. Der junge Mann, Anfang 20, ist Alevit. Aleviten würden vom türkischen Staat diskriminiert. Die Aleviten stellen mit 20 Prozent der Bevölkerung nach den sunnitischen Muslimen die zweitgrößte Religionsgruppe in der Türkei. Sie fordern unter anderem, dass ihre Gebetsstätten anerkannt und, dass sie vom Religionsunterricht befreit werden. Die Türkei müsse die Aleviten als muslimische Minderheit anerkennen, meint die Europäische Kommission. „Ein Beitritt ist sonst undenkbar“, sagt Sedat.

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„Ein EU-Beitritt wäre für viele der kleinen Bauern negativ“, sagt der Soziologiestudent Devrim. Zwischen 30 und 40 Prozent der Türken arbeiten in der Landwirtschaft. In der EU sind es 4 Prozent. Ein Strukturwandel würde die türkischen Bauern in ihrer Existenz bedrohen, sagt Devrim. Für ihn selbst wäre ein EU-Beitritt positiv: Er würde gern mehr reisen. Wie für viele Türken ist auch für ihn ein Schengenvisum selten erschwinglich. 72 US-Dollar kostet es für drei Monate, das Vierfache wie für Österreicherinnen und Österreicher, die in die Türkei reisen wollen.

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Hayati reicht Cay. Dann sagt er: „Wäre die Türkei EU-Mitglied, Europa hätte eine starke Armee.“ Hayati weiß, wovon er spricht, er diente bis zur Rente im türkischen Heer. „Die EU würde profitieren“, sagt seine Begleiterin Iris. Die Türkei sei ja auch Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Außerdem, so Hayati, lebe mittlerweile die dritte Generation türkischer Zuwanderer in Europa. „Eigentlich sind wir längst drinnen.“

Erschienen in: Wiener Zeitung, 06/2006

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