Bundestagswahl 2009: „Deutschland ist so gemäßigt“

Deutschland im Herbst 2009. Seit Monaten ist hier von Krise, Banken- und Opelrettung, von einem horrenden Budgetloch und von Kurzarbeit die Rede. Seit Monaten schimpft das Land auf die gierigen Manager. Auf Karl-Gerhard Eick etwa, der für seinen Abgang vom Handels- und Touristikunternehmen Arcandor 15 Millionen Euro bekommt, oder auf Axel Wieandt. Der Chef der vor der Pleite geretteten Hypo Real Estate hat sich 500.000 Euro Sonderzahlungen sichern lassen.

Die Union redet nun davon, Managergehälter beschränken zu wollen. FDP-Chef Guido Westerwelle sagt, das könne die Politik nicht machen, aber „fassungslos“ sei auch er gewesen, als er von der Abfertigung gehört habe. „Der Geist weht links“, titelte unlängst die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, „Morgenrot“ der Spiegel. Tut sich da etwas in Deutschland? Wo marschiert der Exportweltmeister hin? Morgenrot, Aufbruch ins Neue?

In der Nostizstraße in Berlin-Kreuzberg schimpft um zehn Uhr früh ein Mann, Ende 50, und er riecht nach Alkohol. Er deutet nach oben. Wenn Deutschland jemand helfen könne, dann sei das der liebe Gott, nicht Kanzlerin Angela Merkel oder SPD-Kandidat Frank-Walter Steinmeier. Fast fünf Millionen Deutsche bekommen Hartz IV, knapp 3,5 Millionen waren im August offiziell arbeitslos gemeldet, eine Quote von 8,3 Prozent. Protest? Aufschreie? Die einen sind nicht betroffen, noch nicht vielleicht, die anderen, die nichts mehr zu verlieren haben, sind apathisch und mutlos. Vereinzelt regt sich Widerstand, wenn zum Beispiel ein Opel-Werk geschlossen zu werden droht, dann organisiert der Betriebsrat einen Protesttag.

Grün und Rot wettern derweil gegen die Gefahr, die von AKW wie dem Pannenreaktor Krümmel in Schleswig-Holstein ausgeht. Doch auch hier: Gerade einmal 50.000 Menschen kamen Anfang September zur Schlusskundgebung nach Berlin, nachdem eine nette Protestkarawane für ein atomkraftfreies Deutschland Tage zuvor quer durchs Land gefahren war. „Deutschland ist so gemäßigt“, sagt ein Freund, konservativer Grün-Wähler. „Guck dir diese Demo an. Bisschen Volksfest, es gehört dazu, dass man irgendwie eben dabei ist.“

Andere igeln sich derweil zuhause vor der Playstation ein. Deutschland sei ein Patient, der von einer akuten Depression in chronische Verbitterung gerutscht sei, bemerkt ein Berliner Psychologe. Politikverdrossenheit, Perspektivenlosigkeit, Opium für das Volk in Form von Unterhaltungselektronik. 18 Prozent der Deutschen würden laut Forsa-Umfrage am 27. September Horst Schlämmer ihre Stimme geben. Schlämmer, die Kunstfigur des Komikers Hape Kerkerling. Schlämmer sagt: „Ich verspreche heute, dass ich vier Millionen neue Arbeitsplätze nicht schaffen werde!“, und er rappt mit Bushido: „Gebt uns alle eure Stimmen, wenn ihr wollt, dass sich Veränderung zeigt!“ Wo ist das Morgenrot?

„Wer will, dass es fair und sozial zugeht, muss am 27. September SPD wählen“, ruft Frank-Walter Steinmeier. Er wirbt gerade in Magdeburg um Stimmen, der Hauptstadt von Sachsen-Anhalt, einst Teil der DDR. Sachsen-Anhalt hat einige Erfolgsgeschichten vorzuweisen. Die Rotkäppchen-Sektkellerei im Städtchen Freyburg zum Beispiel oder Q-Cells in Bitterfeld, einer der weltgrößten Solarzellenhersteller. Das aber sind Ausnahmen. Mit 13,3 Prozent hat Sachsen-Anhalt die zweitgrößte Arbeitslosenquote nach Berlin. Magdeburg vergreist. Die rechtsextreme Szene ist im ganzen Bundesland vergleichsweise stark. Die Linkspartei erhält Zulauf. Morgenrot?

Manchen sind die Grünen zu lasch, manche sind von der Politik enttäuscht und manche wünschen sich die DDR zurück. Ökonomisch und in den Köpfen sind Ost- und Westdeutschland noch nicht zusammengewachsen. 20 Jahre nach dem Mauerfall hat die Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, neu angehoben. Über die Medien richten Politiker, Historiker und jene, die – mehr oder weniger – etwas zu sagen haben, einander aus, wie es ihrer Meinung nach gewesen ist. Mitunter nehmen Ostdeutsche eine Abwehrhaltung ein: ein Gefühl, sich erklären oder gar verteidigen zu müssen, weil man überhaupt in diesem Staat gelebt hat. Beim Gedenken an den 90. Todestag der KPD-Gründerin Rosa Luxemburg Anfang des Jahres überlegte eine Frau nicht lange, was sie dazu sage, dass diese Veranstaltung in den Medien weitgehend als „verlogene DDR-Inszenierung“ kommentiert wird: „Wenn mir so ein Wessi-Junge erzählt, wir seien gezwungen worden, hierherzukommen, da krieg ich so einen Hals. Wir hatten zu essen, es gab Bildung, es gab Wohnungen, es gab Arbeit.“ Jeder neunte wünscht sich laut einer Umfrage des Bundesverbands Volkssolidarität die DDR zurück.

Aber es gibt auch andere Stimmen: „Ost und West haben noch nicht zueinander gefunden, wenn ich das schon höre“, sagt ein Freund. „Ich bin Ossi, lebe in Kreuzberg, bin ich etwa nicht zusammengewachsen? Angie, die Ostfrau aus Templin, jettet zu Obama nach Washington – nicht zusammengewachsen?“ Gerade ist Angela Merkel vom Wirtschaftsmagazin Forbes zum vierten Mal zur mächtigsten Frau der Welt gekürt worden, unter anderem, weil sie Deutschland schneller als erwartet aus der Krise geführt habe.

Das Gute an der Krise sei, sagt der Philosoph Stefan Gosepath von der Uni Frankfurt, dass sich auf einmal ein politischer Gestaltungsspielraum auftue. „Das kann eine Krise sein, die die Menschen dazu zwingt, etwas zu verändern.“ Erwacht Deutschland aus seinem Dornröschen-Schlaf, wie es Paul Nolte vor ein paar Jahren formuliert hat? Technisch-ökonomisch und gesellschaftspolitisch sei Deutschland rückständig, befand der Historiker, es gebe Defizite im Bildungssystem, mangelnde Sprach- und Fachkenntnisse, eine niedrige Akademikerquote.

Jetzt soll alles anders werden. Vor ein paar Tagen präsentierte der deutsche Verkehrsminister stolz einen Fahrplan, mit dem das Elektroauto endlich auf die Straße kommen soll. „Deutschland wird Leitmarkt!“, rief Wolfgang Tiefensee. Um ihn herum die Chefs von Daimler, Linde, Vertreter der OMV und von Vattenfall. Ein Teil aus dem milliardenschweren Konjunkturpaket II gibt es für neue Antriebstechnologien, es geht also in Richtung Umwelt- und Klimaschutz.

Angela Merkel unterhält sich derweil mit Nicolas Sarkozy und Gordon Brown darüber, ob Managerboni begrenzt werden sollten. Das ist mehr, als man noch vor einem Jahr erwarten hat können. Daraus wiederum schließt der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann, dass die Finanzmarktkrise die Marktgläubigkeit erschüttert hat, das heißt den Glauben daran, dass der Markt Leben und Politik regieren soll. Nun scheinen sich die Parteien darauf zu besinnen, dass eben die Politik den Markt bestimmen soll und nicht umgekehrt – zumindest lässt sich das aus Äußerungen von Kanzlerin Merkel schließen, auch wenn das Teile der Union anders sehen. Diese Gestaltungsbereitschaft ist nicht „links“, sondern vielmehr ein traditionelles Politikverständnis. Immerhin.

Erschienen in: Falter

Datum: 09/2009

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