Der indische Traum vom großen Aufstieg

„Up-to-date sind sie noch nicht“, sagt der Inder Anand. Aber immerhin gebe es nun mehr Straßen im Land als noch vor wenigen Jahren. Und es sollen noch mehr werden. Hunderttausende Inder sind damit beschäftigt, die neuen Verkehrswege zu bauen und alte zu modernisieren. Denn „India rising“ lautet das Schlagwort – in Indien geht es aufwärts.

Um 7 Prozent wuchs die indische Wirtschaft im vergangenen Jahr, künftig sollen es pro Jahr mehr als 10 Prozent sein, sagte Finanzminister Palaniappan Chidambaram am Dienstag. Für das laufende Haushaltsjahr, das im März endet, erwartet die Regierung ein Wachstum von 8,1 Prozent. Der Staat wolle seine Investitionen in Straßen, Kraftwerke und Häfen um 50 Prozent erhöhen, sagte Chidambaram. Auch die Ausgaben für Gesundheit und Bildung sollen steigen.

Staatliche Investitionen seien aber nicht ausreichend, meinen manche. Das Wachstumsziel sei durchaus realistisch – wenn die Wirtschaft verstärkt reformiert würde, heißt es etwa in einem Bericht, den der Internationale Währungsfonds (IWF) vor einer Woche präsentiert hat.

Bush: „Zölle senken“

Anfang der 1990-er Jahre begann die damalige indische Regierung zwar mit Wirtschaftsreformen und „Strukturanpassungen“ – das Land war damals vor dem Staatsbankrott gestanden. Im Gegenzug gab es Zahlungen von Weltbank und IWF. Doch nach wie vor dominiert der öffentliche Sektor in zentralen Wirtschaftsbereichen. US-Präsident George W. Bush forderte Indien anlässlich seines Besuchs auf, die Obergrenzen für ausländische Direktinvestitionen aufzuweichen und die Zölle für Agrarprodukte und Dienstleistungen zu senken. „Die indische Wirtschaft ist noch nicht so weit geöffnet, wie es sein sollte“, sagt Cyrus Golpayegani, Manager des Raiffeisen-Eurasien-Aktienfonds. Dennoch – „das Potenzial Indiens scheint schier unerschöpflich“, meint Golpayegani. Die „junge und konsumfreudige Schicht“ werde immer stärker, und das sei ein Segen.

Ein Teil von ihnen shoppt im „Prya Market“. Das kleine Einkaufsviertel befindet sich in Neu Delhi. Es könnte genauso gut in Dublin oder Wien sein. Die sauberen, grell-erleuchteten und klimatisierten Geschäfte werden von Sicherheitspersonal bewacht. Man trinkt Kaffee statt Chai und isst Pizza statt Samosas. Prya Market ist von Straßen, die mit schmiedeeisernen Zäunen ihre Bewohner von den anderen deutlich abgrenzen, umgeben, von Häusern der Unter- und Mittelschicht und von Slums.

Fast die Hälfte der mindestens 12 Millionen Einwohner von Neu Delhi lebt in Slums und ohne Genehmigung errichteten Siedlungen. Mehr als 50.000 Menschen sind obdachlos. In der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens leben mehr als 300 Millionen der 1 Milliarde Einwohner von weniger als 1 US-Dollar pro Tag. „Ich glaube, Wachstum ist das beste Mittel im Kampf gegen die Armut“, sagt Minister Chidambaram.

Kritik und Protest

Doch vom Boom der Gesamtwirtschaft Indiens profitieren derzeit nicht alle. Die Gehälter für moderne Dienstleistungsjobs würden zwar seit Jahren spürbar steigen, die Löhne in den übrigen Sektoren besserten sich hingegen nur geringfügig oder gar nicht, schreibt der „Spiegel“. „Ausländische Agrarkonzerne wollen mit indischen Bauern konkurrieren, die froh sind, wenn sie sich selbst ernähren können“, sagt die indische Schriftstellerin Arundhati Roy. Laut einer Bauernvereinigung im Bundesstaat Karnataka müssten Bauern zu hohe Preise für Saatgut und Düngemittel multinationaler Konzerne zahlen.

Anderen wiederum gehen die Reformen zu langsam. Ja, es würden die Flughäfen modernisiert und Straßen gebaut, sagt ein Unternehmer aus Agra in einer Fernsehdiskussion. „Aber wie kann man zufrieden sein, wenn bisher kaum ein Fortschritt sichtbar ist?“, fragt er. „India rising“, der „Indian dream“, könnte für viele ein Traum bleiben, meint die Moderatorin. Für Anhänger der Reformen ein guter, für die Gegner ein schlechter.

Erschienen in: Wiener Zeitung 03/2006

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