Guido Pliska: „Depressionen gibt es in allen Kulturen“

Der in Berlin tätige Psychiater Guido Pliska über den Umgang mit Migranten im Klinik-Alltag, Vorurteile und Missverständnisse, nationale Suizidrisiken – und die „Stiefkinder“ in der transkulturellen Psychiatrie

Herr Pliska, in Ihre Klinik in Berlin-Kreuzberg kommen viele Patienten mit türkischem und arabischem Hintergrund. Ändert das den Krankenhaus-Alltag?

Guido Pliska: Es gibt natürlich interkulturelle Missverständnisse. Viele Migranten gehen selbstverständlich davon aus, dass viele Angehörige sie besuchen und pflegen – wie sie es aus ihrer Heimat kennen. Hier stoßen sie aber auf Pflegepersonal oder auf Mitpatienten, die sich aufregen und sagen: „Da sind immer so viele im Zimmer, das kann nicht sein!“

Wie geht man damit um?
Bei Missverständnissen geht es darum, zuerst einmal eine gewisse Sensibilität dafür zu schaffen, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt. Es geht darum, Kompromisse zu finden, manchmal auch Mediatoren in Anspruch zu nehmen. Auch wir von der „Arbeitsgruppe Migration“ stellen uns zur Verfügung. In interkulturellen Trainings soll gelernt werden, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, damit die Welt durch eine andere Brille wahrgenommen wird. Das machen wir auch in Form von Theaterstücken. Es geht darum, den Beobachter zu irritieren, um ihn dann zum Nachdenken zu bewegen. Eine Kollegin hatte einmal eine Ärztin gespielt, die ständig schroff erklärte, sie können die Patientin nicht verstehen.

Vor unserem Gespräch haben sie gerade mit zwei Kollegen Ihrer Arbeitsgruppe über den Titel eines Workshops zum Thema Tod diskutiert…
Ja. Wir haben vor, ein Seminar zum Umgang mit Tod und Sterben anzubieten, und sind gerade in der Vorbereitungsphase. Verschiedene Kulturen gehen ja ganz unterschiedlich mit dem Thema Tod um, aus Krankenhaussicht kann das mitunter zunächst einmal ein störendes Verhalten sein. Es gab beispielsweise mehrere Zwischenfälle in der Klinik: Angehörige wurden nicht sofort zum Leichnam gelassen, weil man den Toten zuerst in die Pathologie gebracht hat. Das hat die Angehörigen aufgebracht. Auch darauf muss sich ein Krankenhaus erst einmal einstellen: Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund wollen unterschiedlich lange beim Leichnam bleiben – und bringen unterschiedlich viele Angehörige mit. Man muss zunächst schauen, wie man Verständnis für solch einen anderen Zugang gewinnt.

Welche Erfahrungen hat man beim Thema Demenz? Wie gehen andere Kulturen damit um?
Demenz ist das Stiefkind der transkulturellen Psychiatrie. Das wohl deshalb, weil Demenz vorwiegend eine Erkrankung des Alters ist. In vielen Ländern wurde das übliche Demenz-Alter bisher aber gar nicht erreicht, die Lebenserwartung liegt dort noch unter 60, ja bisweilen unter 50 Jahren. Die Migranten, die nach Europa gekommen sind, erreichen erst jetzt das Alter, in dem üblicherweise Demenz auftritt. Eine Studie besagt, dass sich bis zum Jahr 2030 die Anzahl der über 65-jährigen Migranten verdoppeln wird. Somit wird die Anzahl der Dementen auch bei Migranten steigen.

Wie stellt man sich darauf ein?
Es gibt hier in der Nachbarschaft in Kreuzberg das erste Pflegeheim, das auf türkische Patienten ausgerichtet ist. Dieses Haus bietet speziell ausgebildetes Pflegepersonal, passende Beträume und passendes Essen. Auch ambulante Pflegedienste richten sich immer stärker auf Migranten aus. Eigentlich gibt es ja bei Migranten eher als bei uns den Anspruch der Familien, die Patienten zu versorgen. Allerdings brechen diese alten Strukturen immer öfter auseinander, und somit steigt das Bedürfnis, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Gibt es in anderen Ländern unterschiedliche Formen von Demenz?
Demenz ist eine hirnorganische Erkrankung, die Formen sind weltweit überall gleich.

Vergessen Migranten mit Demenz zuerst die Zweitsprache, in unserem Fall Deutsch? Und wenn das so ist: Wie geht man als Pfleger damit um?
Das ist in der Tat so. Wenn jemand eine schwerere Demenz mit Sprachbeeinträchtigung hat, wird die Zweitsprache als erstes vergessen. Glücklicherweise steigt die Zahl der Pfleger mit Migrationshintergrund, die sich dem Thema Demenz und transkulturelle Psychiatrie annehmen. Demente Patienten sind oft über Lieder und Kindheitserinnerungen zu erreichen. Das kann man in der Pflege gut einsetzen – was voraussetzt, dass man sowohl die Lieder kennt als auch den Kontext, aus dem sie kommen.

Wieviele Migranten schaffen es überhaupt ins Versorgungssystem?
Es gibt Untersuchungen, die besagen, dass Migranten häufiger in Akutsituationen ins Krankenhaus aufgenommen werden, es also häufiger Noteinweisungen gibt. Über ihre Erkrankung wissen sie oft erschreckend wenig. Es ist also wichtig, Strukturen zu schaffen, die es auch für Migranten attraktiver machen, zu uns zu kommen. Wir achten deshalb darauf, Kollegen aus verschiedenen Ländern in der Abteilung zu haben. Und auf Bezirksebene geht es weiter – bis hin zu Gesundheitskampagnen, die im türkischsprachigen Fernsehen ausgestrahlt werden, oder man schaltet Aufklärungsanzeigen in der Zeitung „Hürriyet“.

Bei uns haftet psychischen Erkrankungen immer noch ein Stigma an. Gehen Migranten anders damit um?
Bei vielen gibt es Informationsdefizite: Was ist das überhaupt, ein Psychiater, oder was soll das sein, Psychotherapie? Bestimmte Migrantengruppen haben auch schlechte Erfahrung mit der Psychiatrie gemacht – zum Beispiel in Russland, wo in der Vergangenheit Regimekritiker in die Psychiatrie abgeschoben wurden. In vielen Dritte-Welt-Ländern wiederum gibt es nur geschlossene Psychiatrien. Da werden nur diejenigen hingebracht, die außer Rand und Band sind. Da gibt es also schon viele Vorurteile, aber entsprechend oft auch positive Erfahrungen während der Behandlung. Allgemein lässt sich sagen, dass Migranten ihre Familie stärker miteinbeziehen.

Bei mir meldet sich da sofort ein Vorurteil, nämlich das Bild von der Großfamilie, die sich überall einmischt und dem Einzelnen keinen Freiraum, keine Privatsphäre lässt.
Es gibt bei vielen Migranten – das kann man natürlich auch positiv bewerten – eine größere Bereitschaft der Familie, sich um ein Problem, eine Notlage zu kümmern. Erst, wenn es gar nicht anders geht, wird der Psychiater aufgesucht. Bei uns werden Pro-bleme oft ausgelagert: Man geht zur Beratungsstelle, zum Psychotherapeuten. Wir in der Klinik haben oft aus allen Bindungen gefallene junge Deutsche.

Man spricht in Familien mit Migrationshintergrund die Erkrankung also auch offener an?
Ja, zumindest in vielen Fällen. Wir versuchen bei deutschen Patienten auch, die Familie stärker miteinzubeziehen, bekommen aber öfter zu hören: „Bitte nicht mit den Eltern sprechen.“ Das Autonomiebedürfnis ist hier größer. Bei Migranten ist das oft genau umgekehrt. Da wollen wir Erstgespräche unter vier Augen machen – und bekommen zu hören: „Bitte holen Sie meine Angehörigen dazu!“

Warum?
Es gibt eine schöne Passage aus dem Buch „Die Weißen denken zu viel“, ein ethno-analytisches Buch, in dem die Psychoanalytiker Parin und Morgenthaler von ihrer Forschung in Mali berichten. Immer wenn es in den Therapien persönlicher wurde, haben die Patienten ihre Angehörigen dazugeholt, um nicht allein zu sein. Bei uns wäre das quasi eine feindliche Sicht von außen: Wenn ich mir etwa vorstelle, bei der Psychoanalyse wäre meine Mutter dabei . . . Bei uns gilt man als erwachsen, wenn man sich von der Familie emanzipiert hat. In anderen Ländern ist es oft ein Zeichen von Reife, wenn man sich für die Familie einsetzt. Da ist es oft so, dass der Einzelne ohne die Familie nur schwer leben kann. Wenn jemand aus seiner Familie herausgefallen ist und alleine dasteht, dann ist das für ihn eine Katastrophe – und macht die Arbeit für uns schwierig.

Gibt es spezifische Krankheiten bei Migranten?
Prinzipiell gibt es in anderen Kulturen auch eigene Krankheitsbilder – etwa die „Kajakangst“ der Eskimos: das sind spezielle Panikattacken, die mit den dortigen Jagd- und Lebensbedingungen zusammenhängen. In Asien gibt es die Angst, dass die Genitalien schrumpfen und in den Körper eingesogen werden. Abgesehen von diesen eigenen Krankheitsbildern können die großen psychia-trischen Erkrankungen ganz unterschiedlich auftreten. In allen Kulturen gibt es so etwas wie Schizophrenie und Depression.

Und werden diese Erkrankungen unterschiedlich durchlitten?
In Indien berichten Schizophrene häufiger über optische Halluzinationen. Bei uns denkt man bei solchen Symptomen eher an ein Alkoholentzugsdelir. Da gibt es natürlich Verwechslungspotenzial. Depression wiederum kann in anderen Ländern mit merkwürdigen Wahnsymptomen einhergehen: Jemand wähnt, er hat eine Schlange in sich, die ihn auffrisst. Wenn man das bei uns hört, würde man eher an eine Schizophrenie denken.

Sind Migranten häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als Deutsche und Österreicher?
Das ist sehr schwierig zu beantworten, weil es sich schwer vergleichen lässt. Die türkische Community beispielsweise hat einen anderen Bildungsstand und eine andere Altersstruktur. Nimmt man jetzt eine Zufallsstichprobe einer Untersuchung, verfälschen sich die Ergebnisse. Alles in allem geht man aber davon aus, dass Migranten nicht häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen sind als Einheimische – obwohl man eigentlich das Gegenteil erwarten müsste, weil Migration ja Belastung bedeutet. Es gibt aber stärkende Faktoren, wie eben den größeren Familienzusammenhalt und das sogenannte Healthy-Migrant-Syndrom: Diejenigen, die sich trauen, ins Ausland zu gehen, sind möglicherweise psychisch besonders gesunde Menschen. Risiko- und Schutzfaktoren gleichen sich offenbar aus.

Gibt es Krankheiten, die bei Migranten häufiger auftreten?
Das Suizidrisiko wird beispielsweise aus dem Heimatland mitgenommen, das gilt für die erste und zweite Generation. Türken haben demnach ein relativ geringes Suizidrisiko, Russen wiederum ein großes. Bei Essstörungen ist es wiederum so, dass junge Migrantinnen ein fünfzig Prozent höheres Risiko haben, daran zu leiden.

Warum ist das so?
Die wesentliche Erklärung ist wahrscheinlich, dass sich die Identität schwer ausbilden kann, wenn man als Pubertierender zwischen alter und neuer Heimat hin- und hergerissen ist. Essstörungen entstehen ja oft in der Pubertät, in einer Phase, in der es um Identitäten geht. Regressive Bedürfnisse nach Versorgung konkurrieren mit Autonomiewünschen. Bei Migranten ist das noch ausgeprägter. Die aufnehmende Kultur konfrontiert sie damit, selbständiger zu sein. Am anderen Ende zieht die Familie.

Mit dem Schlankheitswahn bei uns hat das also wenig zu tun?
Doch. Das ist eine weitere Hypothese: Dass das höhere Risiko mit der Verinnerlichung von bestimmten westlichen Werten zu tun haben kann, wie Leistung, Fitness, Figur. In bestimmten Inselregionen hat man nachgewiesen, dass sich Essstörungen erst nach der Einführung von Fernsehen entwickelt haben.

Sind Frauen und Männer gleichermaßen betroffen?
In erster Linie sind es junge Frauen. Männer haben einen Anteil von etwa zehn Prozent.

Wie gehen Männer mit den Änderungen um?
Bei Männern spielen eher substanzbezogene Süchte eine Rolle und ein nach außen gerichtetes aggressives Verhalten. Bestimmte persönlichkeitsgestörte Frauen landen in der Psychiatrie, Männer eher im Gefängnis.

Sie haben vorher das Suizidrisiko erwähnt, das man aus dem Heimatland mitnimmt. Welche Beobachtungen hat man bei diesem Thema sonst noch gemacht?
In den meisten Industrienationen bringen sich mehr Männer um als Frauen. Das Verhältnis liegt etwa bei zwei zu eins. In China ist das interessanterweise umgekehrt. Und es ist so, dass in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Methoden angewandt werden. In Indien und Sri Lanka nehmen Menschen eher ätzende Substanzen und Rattengift. Das gibt es hier kaum. Das heißt aber auch, dass es in der Rettungsstelle zu Missverständnissen kommen kann.

Welche Missverständnisse könnte es denn geben?
Wenn man etwa an solche Suizidmethoden nicht denkt, kann man wertvolle Zeit verlieren. Man achtet vielleicht gar nicht darauf, dass der Patient etwas im Magen haben könnte. Wenn man sich dann auch noch nicht gut verständigen kann, denkt man als Arzt zunächst eher an eine Tablettenintoxikation. Tatsächlich aber müsste man den Patienten anders behandeln. Man würde ihn beispielsweise nicht erbrechen lassen, denn die ätzende Säure würde dann noch mehr verätzen.

Wie kommen Sie an Ihr Wissen?
Die Arbeitsgruppe Migration gibt es seit 2005. Damals war vieles learning by doing, man sprach die Ärzte und Pfleger mit Migrationshintergrund an und bat sie, zu erzählen, zu erklären. Literatur gab es kaum. Der „Dachverband der transkulturellen Psychiatrie Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum“, ein Zusammenschluss von Experten aus Österreich, der Schweiz und Deutschland, organisiert regelmäßig Treffen und Jahresversammlungen. 2014 ist ein Kongress in Innsbruck geplant. Allgemein kann man sagen, dass das Thema im Kommen ist, in Krankenhäusern wie an Universitäten. Mittlerweile beschäftigen sich nicht nur Exoten mit transkultureller Psychiatrie.

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung und Wiener Zeitung

01/2012

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