„Noch immer suchen Frauen nach ihrem Prinzen“

Für die 27-jährige Alice Nell ist Coworking kein Fremdwort: Seit zwei Jahren arbeitet sie im Betahaus in Berlin-Kreuzberg, das 2009 gegründet wurde und einer der bekanntesten Coworking-Orte Deutschlands ist. Dutzende Gründerinnen und Gründer arbeiten auf mehreren Etagen. Mittlerweile gibt es Zweigstellen in Hamburg, Barcelona und Sofia. Im Betahaus selbst herrsche zwar Parität unter den Geschlechtern, wie Nell im Interview erzählt, Frauen würden aber nach wie vor vor die Entscheidung Kinder oder Karriere gestellt.

Was machen Männer besser als Frauen?

Alice Nell: Nichts!

Warum gibt es dann weniger Gründerinnen als Gründer?

Ist das so? In Berlin? Wir haben hier Pen Paper piece, Singa, Edition F, Clue, Betahaus, ReDi-School. Aber ja, tatsächlich gibt es viel weniger Gründerinnen als Gründer. Ich denke, das liegt an unserem kulturellen System.

Was meinen Sie damit?

Wir brauchen nur an Filme oder an die Werbung zu denken: Immer noch suchen einsame Frauen verzweifelt nach ihrem Prinzen oder es geht um Frauen, deren Herzen gebrochen wurden oder, wenn der Mann dann endlich da ist, macht natürlich er die schwere Arbeit. Aber diese Dinge ändern sich. Wir müssen einfach dranbleiben. Und natürlich ist die Start-up-Szene der Ort, wo man Änderungen schneller merkt.

Woran liegt das?

Wir machen die Start-up-Kultur genau jetzt, wir bauen daran. Wir haben nicht die lange Geschichte eines Unternehmens im Hintergrund, wo sich Dinge nur langsam ändern. Hier in der Start-up-Szene arbeiten progressive Menschen.

Nur 13,9 Prozent der Gründer in Deutschland sind weiblich. Alice Nell rät: "Einfach machen!" - © Betahaus

Sollte man über eine Quote mehr Frauen in die Unternehmen bekommen?

Zunächst sollte man Menschen nach ihrer Qualifikation einstellen, egal ob Mann oder Frau. Aber natürlich: Wenn 60 oder 65 Prozent der Stellen mit Männern besetzt sind, sollte man anfangen, nachzudenken. Da kann etwas nicht stimmen. Wir haben 2017!

Könnten Kindergärten in den Coworking-Spaces dabei helfen, mehr Frauen dazu zu bringen, ihr eigenes Unternehmen zu gründen?

Wir haben darüber schon nachgedacht und auch mit Frauen und Männern zusammen darüber gesprochen. Allerdings bräuchte man dafür ein eigenes Team. Und abgesehen davon finde ich, dass man an einer anderen Schraube drehen müsste: Männer müssen sich einfach genauso um Kinder kümmern wie Frauen. Man kann die Kinderfrage nicht immer noch zu einem guten Teil den Frauen umhängen. Als ich meinen Doktor machen wollte, fragte mich mein Professor, ob ich Kinder will. Ich solle mir das überlegen, denn dann würde es mit der Karriere nicht mehr so gut aussehen – ich müsste mich ja um Mann und Kind kümmern. Das war wohl der Moment, wo ich verstanden habe, dass wir mit Feminismus noch lange nicht fertig sind. Und, dass es wichtig ist, dass sich Frauen und Männer darum kümmern.

Wie sieht es denn im Betahaus aus? Gibt es mehr Gründer oder Gründerinnen?

Die Zahl der Gründerinnen und Gründer ist im Betahaus fast gleich.

Was raten Sie Frauen, die mit dem Gedanken spielen, ein Unternehmen zu gründen?

Das Gleiche wie Männern: Einfach machen! Go for it! Diese Vorstellung, dass Frauen emotionaler sind als Männer, nicht so geerdet sind wie Männer und weniger technisch sind – alles Blödsinn. Und: Selbst wenn manche Frauen emotional, liebevoll, fürsorglich sind: Sie können mit diesen Eigenschaften großartige Unternehmen gründen! Die Welt wäre dann auch besser, es gäbe mehr Start-ups, die echte Probleme in der Welt lösen wollen. Und je mehr solcher Unternehmen desto besser.

An wen denken Sie dabei? Wer sind Ihre Vorbilder?

Es gibt so viele. Nur ein paar Beispiele: Anne Kjær Riechert hat das Unternehmen ReDi gegründet. IT-affine Geflüchtete bekommen hier kostenlose Aus- und Fortbildungen. Ida Tin gründete Clue, eine Verhütungsapp. Singa von Luisa Sailer bringt Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammen.

Was sagen Sie zum jährlichen Pioneers Festival, das am Donnerstag und Freitag in Wien stattfinden wird?

Es ist eines der besten Festivals. In wenigen Tagen kann man enorm viele Informationen bekommen, und man lernt interessante und wichtige Menschen kennen.

Erschienen in: Wiener Zeitung, 05/2017

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