Zauberberg

Das Gorki Theater gab den Zauberberg. Die Lichter gingen aus, die Vorstellung begann. Es blieb dunkel. In die Dunkelheit hinein leuchtete eine Uhr: Es war 19.36. Nach zehn Sekunden holte mich R. aus meinen Gedanken und zischte mir zu: „Das hat was Meditatives.“ Es hob ein Getuschel an.

Dann ging der Vorhang hoch, es wurde ein wenig heller. Auf der Bühne schneite es, die Tuberkulosepatienten lagen auf Liegestühlen, der Bühnenboden drehte sich langsam im Kreis. „Es ist Winter“, flüsterte jemand um 19.38. „Ich höre den Winter.“ „Wofür Schauspieler so bezahlt werden“, bemerkte ein Herr hinter uns. Neben mir begann die Frau ihrem Begleiter ein paar Daten Thomas Manns zu referieren: „1913 hat er mit dem Zauberberg begonnen. Dann hat es noch zehn Jahre gedauert, bis er damit fertig war. Und 1929 erhielt er den Literaturnobelpreis.“ „Und 1.000 Seiten hat das Buch!“, ergänzte der Mann. Es war 19.40. Die Tuberkulosepatienten drehten sich derweil weiter im Kreis.

Um 19.42 nahm das Gehuste im Publikum zu. Dann klatschten ein paar. Die Schneeflocken fielen lautlos. Als um 19.47 Schuberts Lindenbaum ertönte, huschten drei, vier zu spät Gekommene herein. Die Tuberkulosepatienten rührten sich nicht. Um 20.30 sah man einen nackten Schwanz, das Publikum war nun dabei. Beim Karnevalsfest sah man den Schwanz noch einmal, ein Running Gag, der offensichtlich gefiel. Später war Schneechaos, es kam wieder Unruhe auf. Hans Castorp zog sich nicht nur die Hose herunter, er zog sich ganz aus, ein muskulöser Mensch. „Der hat trainiert“, bemerkte ein Mann. „Pffft“, machte jemand. Dann war Ruhe im Publikum und Sturm auf der Bühne: Die Zeit war ja jetzt stehen geblieben.

Erschienen in: taz (berliner szenen), 02/2009

 

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